Studienbanner_klein Studien von Zeitfragen
34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
Jahrbuch 2000
Thema: 1967
Dokimasia
Entwicklung
Global
Weltfinanz
Weltmacht
Deutschland
Mnemeion
Archiv / Suche
Impressum
Geschichte
Kern des Westens
Cusanus 2001
Löwenthal
Kapitalismus
Schumpeter
Sohn-Rethel
Reuter

Mnemeion

 

Eine späte Karriere in Deutschland - Richard Löwenthal (1908 - 1991)

Von David Hartstein

Mit sprechenden Köpfen kann die deutsche Sozialdemokratie reichlich aufwarten, mit denkenden schon weniger. Noch rarer dagegen sind Denker in dieser Partei, die schon lange keine Bewegung mehr ist und sich gerade fest in die Spur zu setzen versucht auf einem dritten Weg, der ungeahnte Innovationen verheißt.

Da kann es schon vorkommen, daß einer als “konservativ” erscheint, der sich, wie im Briefwechsel mit dem Büro des Kanzlers und SPD-Parteivorsitzenden das eifrig Briefe schreibende Parteimitglied, auf eine falsche Weichenstellung des Kurses der Partei vor nahezu zwanzig Jahren mit Argumenten beruft, die nicht klarer vorgebracht werden konnten als 1981 von Richard Löwenthal in einer kurzen und knappen Kritik an der Führung der SPD durch Willy Brandt. Die Zerreißprobe, die von der Partei mit dem Aufkommen der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluß und dem Auftauchen einer neuen Oppositionspartei in jenem Jahr durchzustehen war, hat die Partei damals nicht bewältigt - oder kann man den Verlust der Regierungsmacht 1982 und das Erstarken des Stimmpotentials der Grünen trotz der Bemühungen um “Integration” anders bezeichnen denn als Scheitern?

Es mag beinahe 20 Jahre danach einer in ihrem sozialem Charakter (und daraus sich ergebenden Bestrebungen) völlig verwandelten Sozialdemokratie ziemlich außerirdisch anmuten, wenn einer die Frage stellt, ob nicht der eine oder andere Ratschlag, den Löwenthal seinerzeit dem Parteivorsitzenden unter die Nase hielt, den Niedergang der SPD, erst aus der Regierung, dann in die Irrungen und Wirrungen der “Enkel”-Zeit (die ja eigentlich Söhne waren oder sind), schließlich in die Endphase der Lafontaine-Ära, hätte aufhalten oder gar abwenden können. Auf jeden Fall enthielten diese Ratschläge ein Element zur Bewältigung der damals ihren Höhepunkt erreichenden Krise der SPD als Regierungspartei. Als Regierungspartei scheiterte die SPD in einer kapitalistischen Demokratie, deren Machtverteilung immer noch von vor-republikanischen Strukturen geprägt war und die heutzutage, nach dem Fall des Systems Kohl, von der veröffentlichten Meinung mit soviel Wonne, Häme und Genuß angekratzt werden, wie sie zuvor 16 Jahre lang duckmäuserisch oder verdrossen-resigniert ertragen worden sind.

Dieses Element in den Ratschlägen Löwenthals zieht sich zusammen auf die einfache Fähigkeit, Widersprüche produktiv auszuhalten und auszutragen: durch Aussprechen dessen, was ist (und widersprüchlich ist) und wozu man als notwendiger Entscheidung dennoch gelangen zu müssen überzeugt ist. Also nicht: Sowohl als auch. Ein solches öffentliches Denken hat jener Aufsatz von Löwenthal damals vorgeführt. Zu der Zeit gab es noch Leserinnen und Leser, die das als Anfangsgründe der Dialektik erkannten. Wer von diesem Denker, der zwar für die Partei des demokratischen Sozialismus nachdachte, aber ganz gewiß nicht Parteidenker war, ohne Vorkenntnisse jenen Aufsatz oder anderes von ihm las, hätte sicherlich diesen “rechten Sozialdemokraten” mit Dialektik und dergleichen nicht in Verbindung gebracht.

Daß dieser “Konservative” aber, der geschichtliche Fortschritte und Errungenschaften der arbeitenden Klassen in einer demokratischen Republik bewahren wollte, mit Dialektik von Jugend auf sehr viel zu tun hatte, soll die nachstehende Kurzbiographie dartun. - Vielleicht kann dieser in Deutschland gar nicht beispielhafte Lebenslauf die Aufmerksamkeit für das Vorwort erhöhen, das Richard Löwenthal zu seinem nach Kriegsende (1946/47) erschienen Buch Jenseits des Kapitalismus dreißig Jahre später (1977) geschrieben hat. Zum Bücherhaushalt der heutigen SPD gehört es anscheinend nicht mehr, denn von Neuauflagen haben wir seither nichts entdecken können. Der Abschnitt II seines Vorwortes kann gleichwohl heute gewiß nicht als überholt gelten, denn die “Neuen Weltwirtschaftlichen Krisenfaktoren”, die er damals beschrieb und zu deren Überwindung er Überlegungen anstellte, sind uns bis auf das Jahr 2000 erhalten geblieben.

 

Kurzbiographie Richard Löwenthals (Stand 1978)

Löwenthal, Richard, Dr. phil., Hochschullehrer, Publizist; geb. 15. Apr. 1908 Berlin; o.K.; V: Ernst L. (1870-1937), Handelsvertr.; M: Anna, geb. Gottheil (geb. 1880 Berlin, gest. 1969 New York); 1960 Charlotte Herz, geb. Abrahamsohn (geb. 1908), Stud. Rechtswiss., Soziologie u. Volkswirtsch.: 1936 Emigr. GB, 1939/40 Archivarin des Central European Joint Committee; StA: deutsch, Ausbürg., 1947 brit., deutsch. Weg: 1935 CSR; 1936 GB; 1937 CSR; 1938 F; 1939 GB: 1961 Deutschland/Berlin (West).


1926-31 Stud. Nat.Ökonomie u. Soziologie Berlin u. Heidelberg u.a. bei Max  Weber u. Karl Mannheim. 1931 Prom. mit Die Marxsche Theorie des Krisenzyklus. 1926-29 Mitgl., ab 1928 Reichsltr. Kostufra. 1929 offenbar wegen der Sozialfaschismustheorie Abwendung von KPD u. Parteiausschluß. 1929-31 KPDO, 1932-33 Mitarb. theoret. Parteiorgan Die Gesellschaft. Anschluß an Leninistische Organisation (LO) Walter Loewenheims, nach 1933 als führender Ideologe u. LtgMitgl. Berlin maßgebl. am Aufbau illeg. Elite-Kader der Gruppe Neu Beginnen (NB) beteiligt; Deckn. Paul Sering, S. Bohner, Ernst. Ab Herbst 1934 Wortführer der Opposition gegen die »liquidatorischen« Tendenzen der Führungsgruppe Loewenheim. In der Auseinandersetzung mit Loewenheims urspr. Konzeption Neuformierung der strateg. Richtlinien u. Orientierung auf Arbeit innerhalh der sozialist. Parteien u. Gew.; 1935 Veröffentlichung einer eigenen Theorie des Faschismus in Zeitschrift für Sozialismus (ZfS), die gegen Faschismuslheorie der Komintern gerichtet war u. einen wesentlichen Beitrag in der Diskussion über Grundlagen u. Perspektiven des natsoz. Regimes darstellte: beeinflußte u. a. die Arbeiten Otto Bauers (Zwischen zwei Weltkriegen) und Franz Neumanns (Behemoth). Frühj. 1935 ZusSchluß mit dem zweiten Protagonisten der NB-Opposition Werner Peuke, der wie er die programmat. NB-These von 1933 von der Notwendigkeit des Kampfes im Reich selbst u. damit der Heranbildung von Kadern für die Zeit nach dem Natsoz. vertrat. Juli I933 Spaltung von NB u. Absetzung Loewenheirns, Ltg. von NB durch L. u. Peuke bis zur Gestapo-Verhaftungswelle unter NB-Mitgl., Aug. 1935 Emigr. in die CSR; in Prag mit Karl Frank im NB-Auslandsbüro. April 1936-Okt. 1937 Forschungsstipendiat in London, danach wieder NB-Zentrale Prag, ab Apr. 1938 in Paris. Mit der Revision des in der Miles-Broschüre aufgezeigten sog. weiterentwickelten Leninismus erreichte L. nach 1935 eine ideolog. Annäherung an die Sozialdemokratie durch die Aufgabe des Konzepts des demokrat. Zentralismus u. der (Erziehungs-)Diktatur des Proletariats: Annäherung an Otto Bauers Austromarxismus u. an die Haltung der traditionellen linken sozdem. Parteiopposition; mit Karl Frank, Joseph Buttinger u. Josef Poplinnig

Verf. Der kommende Weltkrieg. Aufgaben und Ziele des deutschen Sozialismus als Versuch linkssozialistischer Standortbestimmung gegenüber dem zu erwartenden Krieg in Europa. Sommer 1939 mit der NB-Auslandszentrale nach London, nach Kriegsausbruch Red. Reports from Inside Germany (mit Waldemar von Knoeringen). In Klare Fronten (London 1941) propagierte L. im Hinblick auf die Kriegsziele der Alliierten die »deutsche Revolution zwischen den Weltmächten«; wegen der NB-Konzeption eines demokrat, sozialist. Deutschl. und in den Grenzen der Weimarer Republik wurden L. u. Karl Frank von Lord Vansittart als Exponenten »pangermanischen Denkens« angegriffen. In Klare Fronten vertrat L. nach dem Angriff auf die UdSSR u. dem Wiederaufleben einer »Ostorientierung« der linken Exilgruppen eine Beteiligung der UdSSR an der Neuordnung Europas, um die Unterdrückung der revolutionären Bewegungen u. die Oktroyierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung (auch auf die UdSSR) durch die Weltmächte zu verhindern; 1943 jedoch aufgrund der Polenpol. Moskaus grundlegende Revision seiner Ansichten u. Anlehnung an die Westmächte, vor allem an brit. u. amerikan. Arb.bewegung. Enge Verb. zur Fabian Society, Beiratsmitglied International Socialist Forum, Eintreten für Rekonstruktion der II. Internationale. Beeinflußt vom Nachkriegsprogramm der brit. Arb Bewegung, befürwortete L. auch für Deutschland die Ergänzung der parlamentar. Demokratie durch zentrale, an den Interessen der arbeitenden Bevölkerung orientierte Investitionslenkung. 1940-42 Mitarb. Sender der Europäischen Revolution, in GB als freier pol. Journ. tätig, ab 1942 bei Nachrichtenagentur Reuter. Nach dem Krieg Verbleib in GB; 1948-49 Deutschlandkorr für Reuter, 1949-54 für Observer, 1954-58 außenpol. Leitartikler Observer. Mitarb. St. Antony`s College Oxford, 1959 Gastdoz. Otto-Suhr-lnstitut der FU Berlin, 1959-60 Forschungstätigkeit am Russian Research Center der Harvard Univ.Cambridge, Mass. 1961 Berufung als Ordinarius für die Wissenschaft von der Politik u. für Geschichte u. Theorie der Auswärtigen Politik an das Otto-Suhr-Institut, gleichzeitig Dir. Sektion für Osteuropäische Zeitgeschichte am Osteuropa-Institut der FU Berlin. 1964-65 Gastprof. Research Institute on Communist Affairs Columbia Univ. New York; seit Grdg. 1964 Vors. des Forschungsbeirats Ostblock und Entwcklungsländer bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1964-67 Vorst.Mitgl. Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, ab 1970 deren Vizepräs.: 1968-69 Forschungsaufenthalt am Center for Advanced Studies in the Behavioural Sciences Stanford Univ. Palo Alto Kalifornien; 1969 Rückkehr an die FU u. Gesch.f. Dir. Osteuropa-Institut: Mitgl. u.a. Direktorium Bundesinititut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Koln .sowie des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung ebd., des Kuratoriums Stiftung Volkswagenwerk u. des wiss. Direktoriums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Seit 1945 Mitgl. SPD,. mit seiner theoretischen Schrift über den demokratischen Sozialisrnus »Jenseits des Kapitalismus« (1948) Einfluß auf die sozial. Linke vor allem unter der studentischen Jugend in den 60er Jahren, Berater der SPD-Parteiführung insbes. in Fragen der Beziehung zwischen Sozialdemokratie und Kommunisten; wandte sich Juli 1967 gegen Pläne des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Formen der plebiszitären Demokratie in Gesellschaft und Hochschule einzuführen, u. distanzierte sich von der Studentenbewegung im Jahre 1968; einer der Initiatoren des konservativen Bundes Freiheit der Wissenschaft, 1970-73 Vorst.Mitgl; 1970 Mitgr. International Committee on the University Emergency. Nach seiner Emeritierung 1974 freier Publizist. Lebte 1978 in Berlin. – Ausz. Gr. BVK; 1978 Ernst-Reuter-Plakette.

W.: u.a. unter Ps.Paul Sering: Die Wandlung des Kapitalismus. In: ZfS Nr. 20/21, Mai/Juni 1935; Der Fachismus (Voraussetzung und Träger). In: ZfS Nr. 24/25, Sept./Okt. 1935; Der Faschismus, System und Widersprüche. In: ZfS Nr. 26/27, Nov./Dez. 1935; Historische Voraussetzungen des deutschen Nationalsozialismus. In: ZfS Nr. 30, März 1936; Die Aufgaben der deutschen Revolution. In: ZfS, Nr. 33, Juni 1936; Der kommende Weltkrieg. Aufgaben und Ziele des deutschen Sozialismus. Paris 1939 (Mitverf.); Klare Fronten. In: Left News, Okt. 1941 (auch: Richard Löwnthal, op. cit., Hg. Auslandsbüro NB, London 1941); Jenseits des Kapitalismus. 1948 (3. Auflage); unter dem Namen Richard Löwenthal: The Coming World War – Epilogue by Richard Löwenthal. London 1942; Ernst Reuter. Eine politische Biographie (zus. mit Willy Brandt) 1957; zahlr. Veröffentlichungen zur osteuropäischen Zeitgeschichte, u.a.: Chruschtschow und der Weltkommunismus. 1963; Der geborstene Monolith. Von Stalins Weltpartei zum kommunistischen Pluralismus. 1967 (2. Aufl.); Hochschule für die Demokratie. 1971; Sozialismus und aktive Demokratie. Essays zu ihren Voraussetzungen in Deutschland. 1974. L: Kliem, Neu Beginnen; Reichardt, Neu Beginnen; Röder, Großbritannien; Stollberg, Gunnar, Theorie und Erfahrung. Die Fachismusschriften Rosenbergs, Serings und Sternbergs im Lichte der Marschen Theorie. In: IWK 1974/1.