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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Thema: 1967
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Deutschland 

 

Neue Mitte aus den Ruinen der CDU?

Von David Hartstein

 

  Solche Leere haben die katholischen Gläubigen in Deutschland seit Generationen nicht erfahren müssen. Die Mehrheit ihrer geistlichen Hirten hat seit Jahren versucht, dem Kaiser mehr zu geben als des Kaisers ist und die katholische Gewissensschranke vor der Tötung vorgeburtlichen Lebens in eine eindringliche Beratung zur Vermeidung des Schwangerschaftsabbruch verbogen. Die Paradoxien, in denen sich die katholische Kirche in Deutschland durch Anbequemen an den Konsens der Parteienmeinungen und Übernahme des Prinzips der Legitimität durch Verfahren verfangen hat, waren zuletzt in einer List zusammengeschlagen, mit der der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz sowohl den schwangeren Frauen als auch dem Papst im Stile einer Beziehungsfalle eine Aussage unterschieben wollte, die das Sollen für einen Menschen, der bei der katholischen Kirche Rat sucht, zu einer sophistischen Übung in Schizophrenie verkehrte. Seither kann sich die katholische Kirche in Deutschland nur noch mit Hilfe des Kirchenrechts Geltung verschaffen: Für den Papst, dessen institutioneller Wille sich damit durchgesetzt hat, ist gleichwohl danach ein schmerzlicher Verlust festzustellen, wenn man der Lesart von Josef Kardinal Ratzinger folgt, daß »der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes« darin besteht, »daß er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist«.

  Und nun hat sich sich auch noch in einer Abyssos der Anderkonten die Staatsinstitution zertrümmert, mit der die katholische Kirche in Deutschland seit dem Bestehen des Konkordats, besonders aber seit der Gründung der Bonner Nachkriegsrepublik zum Mitträger gesellschaftlicher, politischer und moralischer Herrschaft geworden war, die Christlich Demokratische Union.

 Die Nemesis der schwarzen Macht hätte keiner so treffend und wahr beschreiben können wie der Präfekt der Glaubenskongregation Josef Kardinal Ratzinger in einem »Wegweiser zum Gewissen:

    »Daß Sokrates, der Heide, in gewisser Hinsicht zum Propheten Jesu Christi werden konnte, liegt meiner Überzeugung nach in dieser Urfrage (nach der Wahrheitsfähigkeit des Menschen) begründet: Ihr Aufnehmen ist es, das der von ihm inspirierten Weise des Philosophierens sozusagen ein heilsgeschichtliches Privileg gegeben hat und sie als Gefäß für den christlichen Logos geeignet machte, bei dem es um Befreiung durch Wahrheit und zur Wahrheit geht. Wenn man den Streit des Sokrates aus den Zufälligkeiten der Zeitgeschichte löst, wird man schnell erkennen, wie sehr er - mit anderen Argumenten und mit anderen Namen - in der Sache der Streit der Gegenwart ist. Die Resignation gegenüber der Wahrheitsfähigkeit des Menschen führt zunächst zu einem rein formalistischen Gebrauch von Worten und Begriffen. Das Ausfallen der Inhalte wiederum führt zu einem reinen Formalismus des Urteilens, damals wie heute. Man fragt heute vielerorts nicht mehr, was ein Mensch denkt. Man hat das Urteil über sein Denken schon in der Hand, wenn man es einer entsprechenden formalen Kategorie zuordnen kann: konservativ, reaktionär, fundamentalistisch, progressiv, revolutionär. Die Zurechnung zu einem formalen Schema genügt, um die Auseinandersetzung mit dem Inhalt unnötig zu machen. Das gleiche zeigt sich verstärkt in der Kunst: Was sie aussagt, ist gleichgültig; sie kann Gott oder den Teufel verherrlichen - der einzige Maßstab ist ihr formales Gekonntsein.

    Hier sind wir am eigentlichen Brennpunkt angelangt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie - revolutionär oder reaktionär. Dies ist genau die perverse Form von Gottähnlichkeit, von der die Sündenfallsgeschichte spricht: Der Weg des bloßen Könnens, der Weg der reinen Macht ist Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit. Das Kennzeichen des Menschen als Menschen ist es, daß er nicht nach dem Können, sondern nach dem Sollen fragt und daß er sich der Stimme der Wahrheit und ihres Anspruchs öffnet. Dies war, wie mir scheint, der letzte Inhalt des sokratischen Ringens, und es ist der tiefste Inhalt im Zeugnis aller Martyrer: Sie stehen ein für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen als Grenze aller Macht und als Gewähr seiner Gottähnlichkeit. Gerade so sind die Martyrer die großen Zeugen des Gewissens, der dem Menschen verliehenen Fähigkeit, über das Können hinaus das Sollen zu vernehmen und damit wirklichen Fortschritt, wirklichen Aufstieg zu eröffnen.« (In »Wahrheit, Werte, Macht«, Freiburg 1993)

     

Aufnahmeprüfung für die Berliner Republik

 Bei den Griechen gab es die dokimasía zur Überprüfung von Epheben und neugewählten Amtsträgern. Die Generation der 68er hat das hierzulande als »Regelanfrage« erdulden müssen. Es will scheinen, als müßte die von Helmut Kohl mit dem Speis des anrüchigen Geldes seit den siebziger Jahren ausgebaute CDU zur Aufnahme in eine deutsche soziale und demokratische Republik mit der Hauptstadt Berlin, die sich als Ganzes (das heißt als Bürgerschaft von 80 Millionen Menschen) ernst und das Grundgesetz unter dem Arm dorthin mitnimmt, auch nach der Verfertigung einer neuen Führungsikone durch die Meinung der »Parteiöffentlichkeit« immer noch die Herkules-Arbeit verrichten, um eine solche »Aufnahmeprüfung« einmal bestehen zu können.

 Das Aufatmen bei den einen, dem unrühmlichen und unehrenhaften Ende der Ära Kohl mit mutmaßlich mehr Schadenfreude als Erleichterung zuschauen zu können, wurde und wird noch überwogen von Entsetzen und bangen Befürchtungen bei den andern, die nicht mehr so genau wissen und daher mit Ingrimm fragen wie Heiner Geißler: Was wird übrig bleiben von der »großen Volkspartei« CDU, deren Prägekraft die politische Münze der »Bonner Republik« gestaltet und über den Kopf und den nicht befragten Willen des Volkes hinweg auch die neue Münze Euro durchgesetzt hat?

 Wie weit diese Partei und die sie anleitenden gesellschaftlichen Kräfte sich, aus Furcht vor der schäbigen Wahrheit, von der ihnen ansonsten gewogenen veröffentlichten Meinung und den dort ihre Journalistenarbeit gewissenhaft verrichtenden Personen entfremden mußte, zeigte auf dem Höhepunkt der »Enthüllungskampagne« das Verhalten des schwarzen Prinzen Casimir gegenüber dem Gesprächspartner der FAZ. An dem einen Tag schien der altgediente Schatzmeister von Frankfurter und hessischer CDU und gleichzeitig Oberaufseher des World Wide Fund for Nature in Deutschland mit seiner professionell vorgetragenen Münchhausen-Geschichte noch das ganze Drehbuch in der Hand zu haben. Da konnte Durchlaucht als ein Mustervertreter der Oligarchie in Deutschland sich auch durchaus noch als Herr des Verfahrens dünken, als einer, der mit seiner Schatulle nicht nur die regierende Partei des Finanzplatzes Frankfurt und der ganzen hessischen CDU, sondern auch noch den deutschen Ableger einer weltumspannenden Organisation des grünen und ökologischen Aktivismus wie den WWF zu führen gewöhnt ist.

 Zwei Tage später, Stunden vor den Eingeständnissen der wundersamen Vermögensumwandlungen durch den seit 1970 amtierenden schneidigen Commis der Fraktion »Adel und Banken« in der CDU, Manfred Kanther, erscheint derselbe schwarze Prinz in Büßerhaltung bei der FAZ, um sich bei dem Redakteur der Zeitung, auf deren Gewogenheit es auch in seinen Kreisen ankommt, für seine dreisten Lügen und seine geschmacklosen Anspielungen zu entschuldigen.

Berliner Republiken

 Am Vorabend des Endes einer anderen »Berliner Republik«, 1930, schrieb der Publizist Richard Lewinsohn (Morus) über das Geld in der Politik:

    »Das Kapital muß im demokratischen Staat ununterbrochen einen Kampf um seine Existenz führen. Das ist der Zweck, der ihm jedes Mittel heiligt. Freilich ist darüber die Idee der politischen Demokratie in die Brüche gegangen. In der Wirklichkeit ist aus dem parlamentarischen System ein Kampf des Geldes um die Mehrheit und aus der Demokratie ein Kampf der Zahler gegen die Zahl geworden.«

 Vielleicht besteht der einzige und unendlich kleine Unterschied zwischen den beiden Berliner Republiken darin, daß der Schatzmeister der Volkspartei CDU sich für die Unwahrheit über den »Kampf des Geldes um die Mehrheit« beim Journalisten einer Zeitung entschuldigt, die nicht nur weltweit angesehen, sondern auch als die beredteste Stimme von Logik und Interessen des Kapitals in Deutschland vernommen wird.

 Wenn dieser Unterschied schon wesentlich wäre, könnte man in dem Deutschland nach Kohl bereits eine kleine Umwälzung wahrnehmen, vorausgesetzt, die Beobachterinnen und Beobachter sehen genau hin und bemerken hin und wieder, daß es bei den Geldbewegungen zur CDU und in ihr nicht eben nur um »Geld für die Politik(er)«, sondern um »Geld in der Politik« geht. Dann würde auch manchem Zuschauer aufgehen, daß der Wiederaufstieg des Systems Kohl (nach seinem Tief zu Beginn des Jahres 1989) mit dem Geschenk, das ihm die Geschichte mit der Möglichkeit der Wiedervereinigung angeboten hat, sowie alle nach der Erlangung der deutschen Einheit ihm zufallenden Erfolge oft genug fast genau so erworben worden wie ihm die (immerhin freiwilligen) Spenden von natürlichen und juristischen Personen zugeflossen sind: Nämlich mit diskreten Geldzahlungen und freigebig gewährten Krediten, um sich der Geneigtheit von Akteuren der internationalen Politik zu versichern; mit lediglich mal zwei Währungsumstellungen, von denen die eine mit dazu beigetragen hat, den Rest des Produktivvermögens in der DDR zu ruinieren und die andere immer noch dazu beitragen kann, den Ruin des Vermögens zum Handeln der souveränen Bundesrepublik Deutschland in Zeiten wirtschaftlicher Not herbeizuführen.

 All diese freigebigen Zahlungen und Abtretungen von Vermögen mittels Veräußerung von Hoheitsrechten (denn das sind »Währungsreformen« oder »Währungsvereinigungen« jeglicher Art letzten Endes) allein durch die Regierung (nachzulesen in der Sonderedition der Akten des Bundeskanzleramtes) hatten einen Spender, den kein Ehrenwort verheimlichen und auch nicht vor seinen Zahlungspflichten bewahren kann: die Bürgerinnen und Bürger der (erweiterten) Bundesrepublik Deutschland in ihrer Funktion als Steuerzahler.

  Der Bürger der Bundesrepublik als Steuerzahler, erst recht der in der neuen Mitte, wo die Masse der Steuern erhoben und aufgebracht wird, hätte, wäre er gefragt worden, über die Grenzen seiner Spendenbereitschaft doch noch zwei, drei Gedanken mehr verschwendet, bevor er auf das Ehrenwort des Kanzlers hin, daß das alles seine Ordnung hat, seine sonst nicht geringe Bereitschaft zu Spenden freiwillig bekräftigt hätte. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis hellhörige Leser und Fernseher mit Schaudern Klarheit darüber erhalten werden, wieviel das System Kohl nicht nur an Spenden eingenommen und im politischen Kampf verwertet hat, sondern auch wieviel an volkswirtschaftlicher Verschwendung und Verzicht auf Freiheit des Gemeinwesens (Souveränität) die nicht immer kluge, aber doch so erfolgreiche Politik des Kanzlers Kohl die Bundesrepublik gekostet hat.

  Wenn nach eingehender und dem ehemaligen Kanzler gegenüber gerechter Prüfung der Zwangslagen deutscher Politik in den letzten 20 Jahren manchmal keine anderen Lösungen denkbar waren, so werden die Bürgerinnen und Bürger dieses Gemeinwesens das in Rechnung stellen und anerkennen. Doch Rechenschaftslegung auch über die Frage, wie in der Politik Helmut Kohls überhaupt und in allen Belangen mit Geld umgegangen worden ist, werden sie verlangen müssen. Und daß ein Finanzminister der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auch auf Grund solchen verschwenderischen Umgangs mit dem Vermögen des Volkes heute (im Verhältnis) ausgerechnet auf Kosten der Unterstützung für Arbeitslose sparen läßt, werden sie dann wohl kaum verstehen.

Neue Mitte - in der von der CDU hinterlassenen Leere?

  Was so mancher bürgerliche, »strukturkonservative« Kommentator am Niedergang der »großen Volkspartei« CDU heute zu beklagen hat, wurde von Alfred Sohn-Rethel 1932 in den »Deutschen Führerbriefen« als ein Gesetz der Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht im Rückblick auf den Zusammenbruch des wilhelminischen Regimes und im Hinblick auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise und den Überlebenskampf der lediglich in Weimar beschlossenen, jedoch allemal in Berlin zu Leben gekommenen ersten deutschen Republik so beschrieben:

    »Das Problem der Konsolidierung des bürgerlichen Regimes im Nachkriegsdeutschland ist allgemein durch die Tatsache bestimmt, daß das führende, nämlich über die Wirtschaft verfügende Bürgertum zu schmal geworden ist, um seine Herrschaft allein zu tragen. Es bedarf für diese Herrschaft, falls es sich nicht der höchst gefährlichen Waffe der rein militärischen Gewaltausübung anvertrauen will, der Bindung von Schichten an sich, die sozial nicht zu ihm gehören, die ihm aber den unentbehrlichen Dienst leisten, seine Herrschaft im Volk zu verankern und dadurch deren eigentlicher oder letzter Träger zu sein. Dieser letzte oder >Grenzträger< der bürgerlichen Herrschaft war in der ersten Periode der Nachkriegskonsolidierung die Sozialdemokratie.«

  Selbstredend würde heute jeder überzeugte Demokrat in Deutschland in Abrede stellen, daß es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um ein »bürgerliches Regime« handelt, in dem das über die Wirtschaft verfügende Bürgertum sich bis zum Niedergang der CDU über 16 Jahre lang der von dieser Partei angezogenen und gebundenen »Grenzträger« als der Mitte zum Mittragen seiner Herrschaft versichert hat. Schließlich herrscht doch in Deutschland immer die Partei, die die Mehrheit hat und durch ihren Kanzler die Richtlinien der Politik bestimmt.

 Dann fragt sich aber, warum seit der Verbreitung der Ideologie der »Globalisierung« nahezu jede Regierung, nicht nur in Deutschland, alles nur Erdenkliche propagiert, um sich den »internationalen Finanzmärkten«, d.h. internationalem Kapital, welches der Vorstandslautsprecher der Deutschen Bank mittlerweile zur »fünften Gewalt« erklärt hat, und »der Wirtschaft«, d.h. dem Kapital im Rechtsbereich der Bundesrepublik, ergeben zu zeigen in der Hoffnung und mit der nachgeschobenen Bitte, doch zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn es stimmt, daß die Richtlinien der Politik durchweg davon bestimmt sein müssen, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sowohl inländisches als auch ausländisches Kapital (für vielleicht einige Arbeitsplätze mehr) sich mit angemessener Rendite verwerten kann, dann müßte man doch eine vollständige Abhängigkeit von anzuziehendem oder bereits angehäuftem Kapital feststellen. Daraus müßte aber umgekehrt geschlossen werden, daß eine solche Abhängigkeit von Kapital auch zugleich vollständige Beherrschung durch das Kapital heißt und im Zeitalter des Globalismus eine Demokratie wie die Bundesrepublik es mit einer globalen Kapitalsherrschaft zu tun hat, wie sie Rosa Luxemburg in einigen Beschreibungen ihrer Arbeit »Die Akkumulation des Kapitals« am Anfang des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hat.

Kapitalsherrschaft und Sozialdemokratie

 Wir hätten damit also ein globales »bürgerliches Regime«, bei dem das über »Wirtschaft verfügende Bürgertum« sich nicht nur auf eine Oligarchie von wenigen über gigantische Kapitalvermögen gebietende Eigentümer vermindert hat, sondern wo auch durch die Verwertungsbedingungen des Kapitals auf Weltebene seit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods sich das Bewußtsein »der über die Wirtschaft verfügenden Bürger« davon, auch Bürger und Glieder eines bestimmten nationalen Gemeinwesens zu sein, in der Sorge verflüchtigt hat, mit ihrem Geld-Besitz im internationalen Kasino des spekulativen Empirismus bei der Rendite in Finanzanlagen, Aktien oder auch Derivaten nicht zu kurz und nicht zu spät zu kommen.

 In einen solchen Abgrund von Abhängigkeit ist also die Sozialdemokratie Deutschlands mit ihrem neuen Kanzler hineingewählt worden. Tat nichts, der sozialdemokratische Kanzler strahlte erst einmal eine ganze Weile über diesen Erfolg. Dann aber schien er nach kaum einem Jahr ganz allein dazustehen und nicht nur die Gefolgschaft der SPD-Wähler, sondern sogar die der SPD-Mitglieder zu verlieren. Seit dem Berliner Parteitag Ende letzten Jahres nun aber steht er nicht mehr nahezu allein, wie 20 Jahre zuvor, gegen den Rest der Parteidelegierten ( - damals stimmte er als einer von ganz wenigen gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluß - ), sondern er steht einer folgebereiten und mit ihm bis auf weiteres ausgesöhnten Partei vor, der er vor aller Augen demonstriert zu haben schien, wie man den Bankiers in Frankfurt die Rettung eines Großbetriebes abnötigen kann. Seitdem nun allein noch die Ruinen der Volkspartei CDU als störende Hindernisse dem Kanzler Schröder auf dem Weg zur neuen Mitte im Wege liegen, muß sich der denkende Teil der Sozialdemokratie eine Frage erneut stellen:

 Was kann und muß diese Partei, die einmal angetreten war, der Kapitalsherrschaft den Willen der demokratischen Mehrheit aufzuprägen und mit Bewußtsein und Willen in Bahnen zu lenken, die dem Wohl des Gemeinwesens angemessen und geschuldet sind, tun, um bei einer solchen Schieflage der moralischen Verhältnisse und einer solchen nicht durch eigene Klarheit der Ziele, Überzeugungskraft und Willensstärke zu ihren Gunsten ausschlagenden Gewichtsverlagerung der Kräfte in der deutschen Politik die Richtlinien so neu zu bestimmen, daß eine neue Mitte die Zielsetzung der Sozialdemokratie dauerhaft mittragen kann?

  Peter Sloterdijk hat, nachdem er zuvor in einigen philosophischen Schaukämpfen durch eine »Art von intellektuellem Judo« (FAZ) vor allem Jürgen Habermas in die endgültige Emeritierung gehebelt hatte, Ende des vergangenen Jahres in einem Gespräch mit Oskar Lafontaine auf den Brettern des Wiener Burgtheaters eine treffliche Beschreibung der Aufgabe geliefert, die sowohl die Schwankungsanfälligkeit der globalen Kapitalbewegungen als auch die Schwankungsanfälligkeit des Bewußtseins (nicht nur der deutschen Sozialdemokratie) darlegt. Sloterdijk:

    »In diesem Punkt ist auch die Philosophie kompetent, mitzureden, denn der berühmteste Scheinselbstständige aller Zeiten ist jenes »Subjekt«, von dem sich das moderne Denken so viel versprach. Doch zur Sache: Im Kapital selber erwächst dem Kapital der einzige historisch noch ernst zu nehmende Gegner. Die Widersacher sind das Spekulativkapital auf der einen und das Produktivkapital auf der anderen Seite. Wenn es der Sozialdemokratie nicht gelingt, das gesamte Produktivkapital und vor allem die Manager zu sozialdemokratisieren: ein Klassenbewusstsein der Manager hervorzurufen (was komisch klingt, denn Menschen, die Einnahmen in siebenstelliger Höhe versteuern, werden eine Weile brauchen, bis sie begreifen, dass sie auf derselben Seite der Barriere stehen wie diejenigen, die sich Sorge um ihre 630-Mark-Jobs machen) - wenn diese Sozialdemokratisierung nicht gelingt, wird es aussichtslos bleiben, das Wendemanöver herbeizuführen, das der wild gewordene Weltlauf sich selber seit langem schuldet.«

 Darauf, wie aussichtslos dieses Unterfangen zu bleiben verspricht, werfen die Beobachtungen von Edzard Reuter, eines Managers mit sozialdemokratischem Stammbaum, ein grelles Licht. Auch der ehemalige Finanzminister dieser Regierung, den zuletzt dann doch die »Angst vor der Globalisierung« aus dem Amt und aus der sozialdemokratischen Führung gedrängt hat, kann dazu lediglich nicken. Nicht aber Eminenzen wie Schleußer, denen sich vielleicht Notlügen oder Ausreden, aber gewiß nicht der anmaßende Versuch zur Sozialdemokratiserung von Managern nachsagen läßt. Sie versuchten es lieber andersherum: Mit den Mitteln »unserer« Bank ( - man stellte sich gar nicht erst die Frage, wer denn der tatsächliche Gewährträger der Westdeutschen Landesbank ist, das Land Nordrhein-Westfalen, dessen Souverän ja wohl in erster Linie im Parlament vertreten ist oder die Regierung, die lediglich für das Land die Obliegenheiten des Gewährträgers zu versehen hat? - ) verschaffen wir Sozialdemokraten in der Regierung ausgesuchten Amts- und Mandatsträgern ein Geringes von den Annehmlichkeiten, wie sie Manager in Deutschland als Grundausstattung ihrer Führungsumgebung genießen und beanspruchen, statt uns der unsäglich mühseligen Aufgabe zu unterziehen, Manager zu »sozialdemokratisieren«, was die ja sowieso als »Gleichmacherei« naserümpfend von sich weisen würden.

Mit dem Funktionärs- und Amtsträgerpersonal dieser alten Mitte der Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen lassen sich, wie man gesehen hat, heute selbst in jenem Land der »werktätigen« Mitte für die Sozialdemokratie nur dann noch Wahlen gewinnen, wenn ein genügend großer Teil der alten sozialdemokratischen »Mitte« am Wahltag zuhause bleibt und sich damit der Mehrheitspartei der Nichtwähler anschließt. Eine neue Mitte läßt sich so bestimmt nicht konsolidieren, wenn als Voraussetzung für rechnerisches sozialdemokratisches Übergewicht ein »amerikanisches« Nicht-Wahlverhalten erforderlich ist und die Suche nach der Mitte und Bodenhaftung zugleich im nachindustriellen Nordrhein-Westfalen schon zu einem Ziel-Fallschirmspringen fortgeschritten ist.

Schröder
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