Mit 1968 Staat machen? Anmerkungen und Zweifel zu einem Fluchtpunkt des Zeitgeistes Von Peter G. Spengler
In einer Charakterisierung des besonderen publizistischen Ortes der Studien von Zeitfragen stellte Arno Klönne vor nahezu 20 Jahren fest: »Beispielsweise haben die Studien von Zeitfragen die Neue Linke und die Außerparlamentarische Opposition schon wahrgenommen, als ‘Studentenrevolte’ und ‘APO’ für die Öffentlichkeit noch nicht zu Themen geworden
waren, und die Studien von Zeitfragen stellten Ideen und Initiativen aus diesem Umkreis in einer Ära vor, die noch von den Sichtweisen des Kalten Krieges bestimmt war.«
Wahrnehmen, das darf unterstellt werden, war schon damals im doppelten Sinne gemeint. Dies schloß aber nie ein, daß die redaktionell Verantwortlichen der Studien, von den sechziger Jahren bis zur Vereinigung der zwei deutschen Staaten, dabei
irgendjemandes Parteigänger wurden. Für Herausgeber und Redakteure dieser kleinen, gleichwohl in Deutschland, West- und Osteuropa verbreiteten Korrespondenz stellte sich überdies eine grundsätzliche Gegnerschaft zur westdeutschen Sozialdemokratie als eine besserwisserische Torheit dar, und dies obwohl alle die bittere Erfahrung der Ausgrenzung durch eben diese sozialdemokratische Partei erlebt hatten. Die Mimikry der Wehner-SPD bis zur Bildung der großen Koalition
mit der »Staatspartei« CDU hatte, wie viel an Unausweichlichkeit ihr in historischer Rückschau zugesprochen werden mag, viele Opfer gefordert - mindestens an geistiger und praktischer Energie. Vielleicht erscheinen auch deshalb die Jahre 1967 und 1968, nach dem Vertragsschluß der sozialdemokratischen Partei mit der Partei der »Restauration« den Ergriffenen und Beobachtern, den Empörten und Erregten bis heute im Glanz
einer unerbittlichen und befreienden Auflehnung, weil in diesen Jahren die unterdrückte geistige und praktische Energie mit bis dahin ungekannter Beredsamkeit und Wucht in den öffentlichen Raum ausbrach. Christlich-demokratische wie sozialdemokratische Denkschablonen wurden mit Kategorien, Denkweisen und Ideen konfrontiert, die das Nachkriegsbewußtsein der nicht befreiten, aber besetzten, der nicht belehrten, dafür aber umerzogenen, der nicht nur
geschlagenen, sondern auch zerstörten Einwohner der nachnationalsozialistischen Bonner Republik bei mühevoller Wiederaufbauarbeit mit ihrem Eifer so gründlich verdrängt hatten, daß diese Verdrängung schon fast institutionell abgesichert zu sein schien. Die Erinnerung an die genußreiche und mitreißende Zeit dieses Aufbruchs aus einem institutionalisierten Vergessen in der Alltagswelt ihrer Eltern haben die Generationen, die sich
einst in den Erlebnissog der Revolte haben hineinziehen lassen, im Fortgang ihrer Lebensgeschichten zunächst schwelgend und verklärend, dann teils bedauernd und mäkelnd, schließlich erhaben und durch »neue Realitäten« überredet, stets bewahrt. Mehr noch, sie wurde immer wieder neu verwertet und aufbereitet. Seit dem ersten Kommentar, den Rudolf Augstein über Rudi Dutschke 1967 im Spiegel schrieb, läßt sich das Interesse der
privaten und öffentlich-rechtlichen Organisatoren zur Lenkung der öffentlichen Meinung an der Erzeugung und Bewahrung vom Mythos der Bewegung immer wieder aufs Neue betören. Und bei denen, die den Marsch der Sozialisierung durch die meinungsbildenden Institutionen erfolgreich hinter sich gebracht haben, ist dieses Interesse irgendwie immer noch hautnah und als mehr oder weniger narzißtisch genießbarer Stoff eine willkommene Anregung.
Über diesen undeutlichen Bewußtseinszustand und die daraus abgeleiteten vielfältigen beliebigen Haltungen hat sich vor Jahren, noch vor dem Generationsjubeljahr 1998 der Mentor Oskar Negt angewidert beklagt. Im Vorwort zu seinem dem Ehepaar Habermas gewidmeten Buch »Achtundsechzig« platzt es aus ihm heraus: »Dieses Buch ist im Zorn und gegen das Vergessen
geschrieben. Zornig bin ich, weil ich in der intellektuellen Landschaft der deutschen Gesellschaft, die sich wieder in ihren normalen geschichtlichen Rhythmen bewegt, immer mehr öffentliche Auftritte von Personen wahrnehme, die sich selbst als 68er bezeichnen, um mit glaubwürdiger Geste alles abwerten zu können, wofür sie sich einst haben schlagen lassen. Das läßt nur einen Schluß zu: Der Opportunismus ist die eigentliche Geisteskrankheit der Intellektuellen. Wo diese ihren
Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.« (. . .) »Daß aber diejenigen, die ein Stück ihrer Identität, ihrer Kompetenz und häufig auch ihrer Karriere aus der nur mit den Ideen dieser Zeit verknüpften Praxis gewonnen
haben, leichtfertig oder gar mit Willen und Bewußtsein sich die für diesen Zusammenhang geltenden Begriffe, die Werte und Symbole der politischen Sprache im vorauseilenden Gehorsam enteignen lassen, hat für mich den Rang eines kulturellen Skandals.«
Der Skandal, den Negt hier zornig enthüllt, wäre also unter anderem die Tatsache, daß sich die 68er Intellektuellen von ihrem Opportunismus für ein Linsengericht um das
Urheberrecht auf ihre in Praxis erworbenen Entwurfsphantasien bringen lassen, weil der Markt im Laufe der Jahre nun einmal lediglich ihre Haut, kaum aber ihren Eigensinn nachgefragt hat. Negt dagegen als »Mentor« der Ereignisse wollte auch dreißig Jahre danach an diesem Urheberrecht festhalten und gab deswegen auch zahlreiche Weisungen und Losungen aus, was der Gegenstand eines dreißigjährigen Jubiläums hätte sein sollen. Das Gedächtnisjahr
wird wohl kaum zu seiner Zufriedenheit begangen worden sein. Die Verdrängungsmacht der Phantasie Eine der gelungeneren und dennoch vermutlich an den wirklichen Erfahrungen der Protest- (oder auch:) Empörungsbewegung vorbeischauenden Skizzen zu dem Aufbruch von 1968 fand sich zum Beispiel im Mai 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Ein imaginärer Beobachter aus einem fernen Land hätte 1968 meinen können, an der Entstehung einer Sprache teilzunehmen. Eine plötzliche Lust am Reden breitete sich aus, neue Begriffe, nicht unbedingt schöne - aber kommt es darauf an, wo sie so viel versprechen? -, und alte ideologische Formeln, wie Schätze aus dem Plunder ausgegraben, ein neuer Rhythmus, eine neue Melodie der Sätze, selbst eine neue Intonation - wer Rudi Dutschke
und Hans Jürgen Krahl hörte, bemerkte, selbst wenn er nichts von alledem verstand, was da behauptet und gewollt wurde, doch so viel: daß hier neue Klänge zu hören waren. Die Dramaturgie für das Gesamtkunstwerk '68 stammte aus der Fluxus-Bewegung, aus dem, was vom Situationismus und den holländischen Provos bekannt wurde.«
So trefflich der Vergleich einer Spracherschaffung anmuten mag, die neuen Klänge, tatsächlich 1967 nach dem
allgemeinen Erschrecken über den gewaltsamen Tod des Studenten Ohnesorg als öffentliche Gedanken und Handlungsimpulse erstmals weithin hörbar, waren bereits im Jahre 1968 auch zu einem ohrenbetäubenden Getöse angeschwollen, in dem den in die Aktionen der Studentenbewegug hineingezogenen Teilnehmern der klare Blick, das empfindliche Ohr und die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung abhanden gekommen war. Herbert Marcuse hatten ihnen die »self-fulfilling prophecy« mitgegeben,
an die sich alle folgsam hielten, bis ihnen das von einem Meinungslenkungsapparat herbeigeschriene und herbeigeschriebene Attentat auf Rudi Dutschke und die Polizeiknüppel zur Abwehr der Angriffe auf die Organisation Springer statt »repressiver Toleranz« den deutschen Institutionalismus einbleuten: »Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein
Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.«
Was die Osterunruhen 1968 besiegelten, war eine Niederlage, die sich weder die Strategen noch die ihnen nahestehenden Aktivisten und am wenigsten später die Gedächtnispfleger in Wort und Bild je unzweideutig und folgerichtig eingestanden haben. Die Phantasie dagegen
konnte in den Monaten danach mächtig hinzugewinnen. Sie gelangte so unbezwingbar an die Macht, daß die Begründungen und Rationalisierungen aller nachfolgenden Kämpfe, Schlachten und Scharmützel schon im Moment ihrer Austragung so phantastisch waren, daß der nur wenig distanzierte Beobachter bereits im eigenen Land hätte meinen können, an der Entstehung des Mythos selber teilzunehmen.
Die »Situation« der deutschen Studentenbewegung nach dem Barrikadenaufstand gegen den Propagandaapparat der »innerstaatlichen Feinderklärung« im kalten Krieg hatte Ulrich Sonnemann schon in den ersten Sätzen seines Aufsatzes »Dutschke und Augstein« (nachgedruckt in »Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland«. edition suhrkamp 1968) in einer Momentaufnahme auf den Begriff gebracht: »Die Schüsse auf Rudi Dutschke haben die Lage der deutschen Studentenbewegung verändert. Wie wenig sie ihren Zweck verfehlten, stellte sich im Laufe des Frühjahrs 1968 heraus. Der Mordanschlag auf den Berliner Studentenführer trieb den studentischen Aufstand in der Bundesrepublik in ein Stadium vor, in dem sein Tempo sich beschleunigen mußte, ohne daß sich seine Wege geklärt hätten. Unter den möglichen Klärern fiel Dutschke zunächst aus. Diese Lage dauert
an; sie ist, vor allem für die Studenten selber, gefährlich. Voraufgegangen war dem Attentat ein erster Erfolg der außerparlamentarischen Opposition, als bei Gelegenheit des internationalen Vietnam-Kongresses in Berlin (im Februar) ein Gericht die Westberliner Obrigkeit im letzten Augenblick in die Schranken wies: das grundgesetzliche klausellose Demonstrationsrecht wurde bestätigt und wahrgenommen. Kaum tritt man, wie man deutsche Gerichte kennt, diesem zu nahe, wenn man die Frage
schwer abweisen kann, ob es auch bei weniger weltweiter Rampenhelle des Anlasses so billig entschieden hätte. Der Erfolg blieb schon zu seiner Zeit episodisch.«
Denn mit den Schüssen auf Rudi Dutschke traf die studentische Bewegung die Vergeltung für den Erfolg, bei einem deutschen Gericht erstmals gegen Widerstand den öffentlichen Raum aus Anlaß einer weltweit beachteten
Veranstaltung überhaupt erobert zu haben. Sie hatte sich den Raum für Öffentlichkeit als Marktplatz, nicht als Markt der Waren erstritten. Das Recht zu öffentlicher Kundgebung ist nämlich mit Fug und Recht weit eher ein öffentliches Recht und damit Äußerung öffentlicher Meinung als all die millionenfachen Tausch- und Verbrauchshandlungen, mit denen sich der Verkauf von Nachrichten und Kommentaren, gegen Entgelt oder Gebühren, durch privatwirtschaftlich oder
öffentlich-rechtlich organisierte Unternehmen zur veröffentlichten Meinung täglich als Ware realisiert und bei den Verbrauchern der Ware als Meinung »umsetzt«. Bei den Angriffen dagegen auf die Produktionsstätten der größten Maschinerie In Deutschland zur Massenbeeinflussung im kalten Krieg, der man die Verantwortung für die Aufreizung zum Mordanschlag auf Dutschke zurechnete, handelte es sich
nicht mehr um Aktionen in aller Öffentlichkeit und für Öffentlichkeit, sondern um einen nichtöffentlich verabredeten Anschlag auf eine geheiligte Institution der bürgerlichen Gesellschaft und ein Grundrecht obendrein: den freien Gebrauch des Eigentums zum Vertrieb und zur Verbreitung von Meinungen, über deren Zulässigkeit einzig und allein nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten König Konsument und Souverän Leser zu entscheiden hatten und haben. Ein erzwungener Rückzug aus der Öffentlichkeit Statt der Herstellung von Öffentlichkeit über die Rolle der Propagandamaschine Springer-Presse mißriet den Urhebern der Blockade gegen die Auslieferung von »Hetzerzeugnissen« ihre Aktion zum ersten Versuch seit der Spiegel-Affäre, die Pressefreiheit und ihre Realisierung als Markt in der Bundesrepublik zu behindern. Statt ihre Vorstellung von
Öffentlichkeit, die sie durchzusetzen geübt hatten gegen irritierte, verunsicherte und manchmal eingeschüchterte Professoren an der Universität, auch an der Nahtstelle zu praktizieren, wo zwischen privater Verfügung und öffentlicher Ordnung alles peinlichst genau geregelt ist, rannten sie mit wachsender Wut gegen eine Staatsgewalt an, die ihnen mit immer mehr Nachdruck und noch mehr Knüppelhieben die Unantastbarkeit des deutschen Institutionalismus einbleute:
Die Studentenbewegung wurde in jenen Ostertagen geschlagen - in einer Weise, die weiter und endgültiger über Marcuses Weissagung hinausging. Diese Erfahrung hat die Haltung der Beteiligten auf Jahre hinaus mit Reaktionsbildungen geprägt, deren Aktions- und Reaktionsmuster lange wirksam geblieben sind und deren nahe und späte Folgen sich bis heute nicht vollständig verloren haben. - Die politische Lebensgeschichte vieler Individuen
dieser Generation, die 1967 in einen Gemütszustand der Empörung und Scham über die Ereignisse des 2. Juni und danach aufgerüttelt worden waren und die als Bewegung dann weit über die um den SDS angeordnete Studentenbewegung hinausreichte, könnte in ihrer Entstehungsphase mit den Worten beschrieben werden, mit denen in den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts (der Vormärzzeit) sich Marx gegenüber Ruge über die Beweggründe einer Auflehnung einmal so ausdrückte: »Es ist eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unseres Patriotismus, die Unnatur unseres Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie sehen mich lächelnd an und fragen: Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: Die Scham ist schon eine Revolution; sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde.«
Wenn Scham, wie Marx wohl zu verstehen ist, eine die individuelle Integrität wie Identität beleidigende und aufwühlende moralische Erregung darstellt, dann hätte doch schon immer gefragt werden müssen, wieso nicht das Jahr 1967, als Scham und Empörung erstmals und unmittelbar zum massenhaften Ausdruck gelangten und die studentische Opposition von einer »radikalen Minderheit« sich zu einer
Bewegung erweiterte, zum Fixpunkt des Gedenkens wurde. Warum nicht das Jahr der Erhebung, sondern das Jahr des Zusammensinkens und des Eindampfens der geistigen und praktischen Energien im Binnenbereich der symbolischen und ideologischen Auseinandersetzungen in der Universität? Warum nicht das Jahr 1967, als in der Berliner FU Herbert Marcuse mit Studenten und Professoren unter der Überschrift »Das Ende der Utopie« zum Beispiel über »Moral und Politik in
der Überflußgesellschaft« und »Vietnam« diskutieren konnte, während ein Jahr später das Ausheben von Schützengräben zwischen Professoren und Studenten nicht nur beinahe zum wichtigsten Moment der Geltendmachung des antiautoritären kulturellen Verhaltensstils, sondern vielmehr bereits zum Hauptschauplatz des »emanzipatorischen Kampfes« aufgerückt war? Das Ende der Identifikation mit dem Westen Gewiß mögen solche Fragen völlig fehl am Platze sein, wenn Oskar Negt für das Jahr 1968 gleichsam als Verordnung festhält: »Das Jahr 68 öffnet die Geschichte für Augenblicke; es ist ein in jeder Hinsicht anstößiges Jahr, das Anfänge und Hoffnungen setzt.« Und eine Seite vorher in seinem Vorwort zu »Achtundsechzig«: »Zunächst ist jedoch der Hinweis erforderlich, daß 68 ja
viel mehr ist als die Rebellion der Studenten und Jugendlichen; es ist eine Protestbewegung in einem umfassenden Sinne. In Paris sammeln sich im Mai 1968 eine Million Arbeiter, und der Sturz des de Gaulleschen Präsidialsystems ist in greifbare Nähe gerückt. (Anm. d. Verf.: Wie man später, in den 80er Jahren,
allerdings nur auf Französisch, lesen konnte, verfügte die CIA im Pariser Odeon, mitten unter den Leitern der Aktionen, über tüchtige >teilnehmende Beobachter<. Ganz gleich, wie sehr diese auf das Geschehen einwirken konnten, mit de Gaulle wurde der einzige Machtinhaber auf dieser Seite des kalten Krieges geschwächt, der nicht nur seine Ablehnung des amerikanischen Krieges in Vietnam, sondern auch der internationalen Finanzpolitik, nämlich der Inflationierung
des Dollars in der Weltwirtschaft, mit Erklärungen und Handlungen bekräftigt hatte.)
Negt weiter: »In der Tschechoslowakei entwickelt sich, wie wir heute nachträglich feststellen können, unter Dubcek eine der letzten möglichen, aber bereits überfälligen Reformen des Sozialismus, die sich aus der uralten Kraft sozialistischer
Utopien nährt, um durch einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, friedlich und waffenlos, die nachstalinistischen Bürokratien zum Abtreten zu veranlassen...« (Anm. d. Verf.: Dazwischen hatten aber noch einige russische Panzer für einen nicht gerade kurzen Aufschub der überfälligen Reformen gesorgt; am Ende des
Prozesses stand zu dem Zeitpunkt, an dem Negt sein Vorwort schrieb, 1995, der Regierung in Prag ein Mann vor, der den Regierungen in Westeuropa vormachen wollte, wie man nach den Vorschriften von Hayeks und Thatchers >überfällige Reformen< zur schrankenlosen Öffnung der freien Marktwirtschaft durchsetzt.)
Oskar Negt zählt weiterhin auf: »Der Vietnamkrieg treibt dem Höhepunkt entgegen. Die
Tet-Offensive leitet das allmähliche Scheitern der amerikanischen Interventionspolitik ein.« (Anm. d. Verf.: Wenn es überhaupt einen Höhepunkt des stets >begrenzten< Vietnamkrieges gab, dann waren es die von Henry Kissinger und Richard Nixon verfügte Bombardierung des neutralen Staates Kambodscha sowie die Exekution der dagegen
protestierenden Studenten in Kent, Ohio. Es gibt überdies nur wenige Berichterstatter und Geschichtsschreiber des Vietnamkrieges, die die Tet-Offensive als einen Erfolg bezeichnen würden. Als kräftiger Propagandaschub zur weltweiten Unterstützung der vietnamesischen Guerilla-Armee und Nordvietnams gegen die Amerikaner diente sie allemal vorzüglich.)
Nach Erwähnung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
und Antikriegskampagnen muß Negt aber auch feststellen: »Aber es ist auch das Jahr furchtbarer individueller Tragödien: Martin Luther King wird hinterrücks erschossen, Robert Kennedy, der Hoffnungskandidat eines Neuaufbruchs, getötet.« (Anm. d. Verf.: Man traut seinen Augen nicht: Der Mord
an Martin Luther King eine individuelle Tragödie? Sein Tod auf dem Höhepunkt seines moralischen und politischen Erfolges, wo er zum nationalen Führer auch weißer Amerikaner hätte werden können und damit den Keim einer moralischen Revolution in den Vereinigten Staaten gesetzt hätte, Martin Luther Kings individuelle Tragödie? Eine Tragödie wurde es für die, deren geistiger und moralischer Führer er damals war und die sich von diesem Verlust nie mehr erholten; was die
Urheber des Mordes an ihm auch bezwecken wollten. Der Mord am aussichtsreichsten und erfahrensten Bewerber um die Präsidentschaft, Robert Kennedy dessen individuelle Tragödie? Der Tod des Mannes, der am meisten über die Hintergründe der Ermordung seines Bruders wußte, der als Präsident zum obersten Ermittler der Umstände der Schüsse von Dallas geworden wäre,
eine individuelle Tragödie? Der Mann, der das Vermächtnis seines Bruders zur Beendigung des Vietnamkrieges eingelöst hätte, Opfer einer individuellen Tragödie? War das nicht vielmehr eine Tragödie für die amerikanische Republik, die nach Ausschaltung des jüngeren Kennedy miterleben mußte, wie für Nixon und Kissinger die Bahn frei wurde für alle Untaten und Fehlleistungen, die mit dieser Präsidentschaft historisch verbunden sind?)
Selbst wenn man unterstellt, daß hier Negt die Begriffe durcheinander geraten sind und er vielleicht gemeint hat, daß die Tragödie darin bestehe, daß hier Individuen ausgeschaltet worden sind, deren Handeln noch Spuren in der Geschichte hätten hinterlassen können, warum spricht er nicht aus, daß die Tragödie unsere, die der Nachkommen, eben der Verlust dieser »weltgeschichtlichen Individuen« ist?
Was gibt es also, wenn man diesen Beispielen nachfragt, so sehr Rühmenswertes am Jahr 1968? Es hat allerdings die »Geschichte für Augenblicke geöffnet«, es konnte dem, der lernen wollte, vor allem für einige Augenblicke, die Augen öffnen, an welchem Punkt der Krise die Entwicklung der Gesellschaften des Westens im kalten Krieg angelangt war. Und genau an diesem Punkt hat begonnen, was später Richard Löwenthal als »romantischen Rückzug« bezeichnet hat: die
Entidentifizierung jenes Intelligenz-Nachwuchses mit den kulturellen Grundlagen, auf denen sie selber erzogen worden waren und deren Geltung sie mit gegenkulturellen Mitteln und Formen einfordern zu wollen schienen. Das Jahr 1968 hat keine der wesentlichen Fragen weder theoretisch noch praktisch beantwortet, die zumindest in Deutschland schon ein Jahr zuvor, 1967, klar ausgesprochen worden sind. Warum also gerade dieses Jahres als identitätsstiftenden
lebensgeschichtlichen Fluchtpunktes gedenken? Eine immer noch unbeantwortete Frage Eine wesentliche Frage, die auch als Zusammenfassung der Aufgabenstellung des Denkens der Organisatoren in der sich verbreiternden Bewegung genommen werden kann, als Aufgabe des Gedankens dieser Bewegung, wurde bei eben
jener Tagung »Das Ende der Utopie« 1967 in der FU gestellt, vermutlich von einem Studenten, das Protokoll der Veranstaltung vermerkt lediglich »Frage« - sie ist an Herbert Marcuse gerichtet: »Sie haben uns sehr klar die Integration der amerikanischen Arbeiterklasse aufgezeigt, haben den Prozeß der Entwicklung der Produktivkräfte und der Veränderung der Arbeiterklasse im Stand und in der
Entwicklung der Produktivkräfte aufgezeigt. Dann gab es einen Hinweis, daß eventuell in Europa die Möglichkeit bestehe, daß bestimmte Schichten oder insgesamt eine Klasse im Prozeß der Verbreiterung der Vorbereitungsopposition eine größere Rolle spielen könnten. Denken Sie, daß hier in Europa aus dem Prozeß der ungleichzeitigen Entwicklung des Kapitals Rückstände geblieben sind oder Elemente belebt werden können, die tatsächlich die Arbeiterklasse als Klasse durchaus im
Prozeß der Verbreiterung unserer Opposition sehen können, oder sollte das nur ein kleines Trostpflaster für Europa sein, das innerhalb des theoretischen Kontextes keine große Bedeutung hat? Um es genauer zu spezifizieren: Kann unter dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte auch in Europa, unter dem Stand der systematischen, funktionalen und physischen Kapitalvernichtung, überhaupt noch eine Reaktivierung der Arbeiterklasse als Klasse geschehen, oder stehen wir
nicht vielmehr in einem Prozeß der geschichtlichen Entwicklung, in dem nicht mehr die proletarische Revolution auf der Tagesordnung steht, sondern die menschliche Revolution? Das hieße, daß die Gesamtheit aller Menschen in den Metropolen durchaus als potentiell revolutionär von uns betrachtet werden muß; daß der Prozeß der Entwicklung der Produktivkräfte gerade eine Entfunktionalisierung der Kapitalistenklasse gebracht hat, eine Delegierung der Kapitalfunktionen an
Nicht-Kapitalisten; daß damit auch der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit nicht mehr der Gegensatz zwischen proletarischer und Kapitalistenklasse ist, sondern der Gegensatz, wie Marx ihn im ‘Elend der Philosophie’ beschreibt, zwischen lebendiger Arbeitskraft und verselbständigter fremder Produktivkraft, die der Kontrolle der Menschen entzogen ist, die wir wiederzugewinnen haben, die wir uns universell anzueignen haben; und daß damit der Charakter der
zukünftigen Revolution nicht mehr ein proletarischer sein kann pars pro toto, sondern menschliche Revolution als Gesamtrevolution gegen das System.«
Wenn, wie sich in der hier ausführlich wiedergegeben Frage zeigt, ein Verständnis sowohl von universeller Aneignung der produktiven menschlichen Möglichkeiten als auch einer Verwirklichung dieser Möglichkeiten auf der Ebene des
Weltsystems ausspricht, dann sollte man annehmen, daß eine annähernd richtig gestellte Frage in der Rückbetrachtung der Mentoren und der Schüler weit mehr Bedeutung für das Fortleben des Gedankens beanspruchen müßte als all die falschen Antworten oder Zurückweisungen, die seit dem Jahre 1968 ausgegeben worden sind. Aber an Fragen, die einst gestellt und für zutreffend erkannt worden sind, erinnert sich nur ungern, wer sie nicht mehr für brennend erachtet oder wer
an der Ungreifbarkeit der Antwort verzweifelt. Aus diesem Dilemma nährt sich der Mythos von 1968, aber auch der Zorn des Mentors Negt. Ein anderer Mentor der für die globalen und universellen Fragen der kapitalistischen Entwicklung offenen Köpfe der Protestbewegung, Andre Gunder Frank, bemerkt in seinem Bericht The Cold War and Me über seine Zeit während der Regierung Allende in Chile 1972 aus Anlaß der
UNCTAD-Konferenz in Santiago de Chile: »Mein Argument war, daß jetzt Studium und Widerstand gegen die weltweite Wirtschaftskrise der Kapitalakkumulation gefordert wäre, die wie ich sagte, 1970 begonnen hätte. (Tatsächlich hatte sie bereits 1967 begonnen, wie ich dann später schrieb.)«
Genauso war es. Und diese Krise der Kapitalakkumulation in
der Weltwirtschaft dauert noch heute an und ist bereits in eine Zivilisationskrise ausgewuchert. In jenem Jahr 1967, als die Pfundkrise den Zerfall des Nachkriegs-Wirtschafts- und Währungssystems einleitete. wurden auch, sogar am selben Tag, zwei Dokumente verfaßt, die sich mit dieser Krise befassen. Bei dem einen handelt es sich um eine Studie aus dem Umkreis der amerikanischen Studentenbewegung an der Columbia University in New York, unweit der Wall Street, das andere Dokument ist die Enzyklika »Populorum Progressio« Papst Pauls VI., die die Studien von Zeitfragen bereits 1981 einmal vollständig nachgedruckt haben. Im Lichte dieser beiden Dokumente könnte nicht nur der Mythos von 1968 abblassen, sie könnten ihn auch vor eine ganz andere Totale stellen. Sie könnten weiterhin auch zum
Verständnis der Gründe beitragen, warum sich seit dreißig Jahren sowohl die kapitalistische als auch die kritische Intelligenz mit ihren Fehldeutungen des globalen Systems als nachindustrieller Gesellschaft um die Erkenntnis dieser Krise als einer globalen Krise der Kapitalakkumulation selbst betrügen und die Frage des Studenten der Berliner Diskussion (noch) erfolgreich verdrängen. Und sie können zeigen, daß sich auf Mythen solcher Art keine Gemeinwesen gründen und erbauen lassen.
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