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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Die Dritte Ära des Imperialismus

West Village Komittee für unabhängige politische Aktion

Vorwort (26. März 1967)

Zwar handelt es sich bei dieser Broschüre oberflächlich betrachtet um eine Analyse einer heraufziehenden wirtschaftlichen und sozialen Krise im entwickelten kapitalistischen Sektor, gleichwohl ist jedoch damit keineswegs beabsichtigt, in einen Wettbewerb in Wahrsagerei einzutreten. Die Krise, die hier seziert wird, ist nicht etwas, was sich innerhalb der nächsten fünf Jahre ereignen kann; wir haben es mit einem Prozeß zu tun, der bereits alle Hauptfragen des Alltagslebens bestimmt. Der Krieg in Vietnam, die »Neger«-Frage, die radikalisierte Jugend, der Verfall der Städte, steigende Einkommensteuern in Staaten und Gemeinden, 35 Millionen Amerikaner in Armut, all das sind Ergebnisse einer Akkumulation wirtschaftlichen Verfalls, der nun die »kritische Masse« erreicht hat.

Diese Broschüre ist keine fatalistische Vorhersage, aber eine Feststellung der Alternativen, zwischen denen diese Generation zu wählen hat. Den imperialistischen herrschenden Kreisen steht durchaus ein Ausweg aus der bevorstehenden Wirtschaftskrise offen.Wenn keine sozialistische Führung mit einem besseren Programm auf den Plan tritt, die das Vertrauen von Gewerkschaftern und anderen Lohnabhängigen erlangt hat, wird sich triumphierend eine neue Form des Imperialismus erheben, wie es schon 1948 geschehen ist. Wenn sich herausstellen sollte, daß dies Faschismus sein wird, dann fällt daran die Schuld jenen Sozialisten zu, die sich beizeiten darauf hätten vorbereiten können.

Was wir daher zu tun haben ist nicht einfach »für den Sozialismus einzutreten«. Es ist absolut nicht wahr, daß wir nur die sozialistische Revolution durchführen müssen und dann wäre alles »Kuchen und Sahne«. Die amerikanischen Arbeiter werden den Sozialismus nicht deswegen wählen, weil es Sozialismus ist; sie werden darüber auf der Grundlage eines Programms entscheiden. Sollten sie das Programm der Sozialisten annehmen, werden sie sagen: »Wenn ihr das Sozialismus nennt, dann bin ich ein Sozialist.

Als größte Feinde der Sozialisten erweisen sich einige weitverbreitete Illusionen. Eine solche Illusion ist die, daß für die »Bewegung« andere Träger gesucht werden müssen, weil die Arbeiter seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht radikal gewesen sind. Diese Annahme ignoriert die Tatsache, daß Massen von Arbeitern nur in jenen kurzen und wiederkehrenden Ausnahmeperioden einer tatsächlich eingetretenen oder bevorstehenden Krise radikalisiert werden. Während der langen Zeitspanne stabiler kapitalistischer Verhältnisse dazwischen kann der Kapitalismus stets auf ihre zumindest passive Unterstützung rechnen. Dies nicht zu verstehen und dementsprechend zu handeln bedeutet jegliche Chance auf einen sozialistischen Sieg zu vergeben, noch bevor der Kampf richtig beginnt.

Gleichermaßen gefährliche Illusionen bestehen im Hinblick auf das Programm. Einige Sozialisten halten die Wirtschaft der USA für so produktiv, daß etwas so einfaches wie eine Umverteilung der Einkommen alle wichtigen ökonomischen Probleme lösen würde. Andere wandeln diese Position mit dem Vorschlag ab, eine friedliche Nutzung der Kapazitäten der Rüstungsproduktion werde für reichhaltige Kapazitäten zur Erzeugung allgemeinen Wohlstandes in diesem Land sorgen. Unter solchen Voraussetzungen legen sie uns die Beschränkung sozialistischer Programme auf einen Korb leicht zu merkender Losungen nahe und wenden sich gegen jegliche Analysen (wie der in dieser Broschüre vorgetragenen) oder Programme, die nicht von jedermann beim ersten Lesen oder Hören verdaut werden können.

Ganz im Gegensatz zu diesen Annahmen wird die kommende Krise erweisen, daß die amerikanische Wirtschaft eine des Mangels ist, daß ihr die produktiven Kapazitäten fehlen, um die Bedürfnisse aller ihrer Bürger zu befriedigen. Schlimmer noch, wenn man die produktiven Arbeitsplätze insgesamt betrachtet, so hängen, abgesehen vom engen militärisch-industriellen Sektor, die Arbeiter von Industrien ab, deren Produktionstechnologien sich seit den zwanziger Jahren kaum weiterentwickelt haben. Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die (bei ihrer gegenwärtigen Organisation) physisch unfähig ist, unsere materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, einer Wirtschaft, die seit Jahrzehnten immer tiefer in Veralterung und Verfall versinkt.

Ohne eine gewaltige Verlagerung der Beschäftigung von unproduktiven zu produktiven Bereichen, ohne die Schaffung von bis zu 20 Millionen neuer Jobs in modernen Fabriken können die gewaltigen Bedürfnisse in unserer Gesellschaft nicht befriedigt werden.

Einen solchen Schlamassel haben uns die vergangenen zwei Jahrzehnten des Kapitalismus in den USA hinterlassen, und der kann nicht durch ein paar einfache Losungen aufgeräumt werden. Ohne ein wissenschaftlich kompetentes Programm zum wirtschaftlichen Wiederaufbau werden die Sozialisten nicht in der Lage sein, zu den Hauptproblemen der kommenden Krise irgendeine sinnvolle Lösung zu bieten. Die Grundaussage über die sich entwickelnde kapitalistische Krise, wie sie in dieser Broschüre diskutiert wird, ist die, daß der Kapitalismus in den USA darin versagt hat, die Produktion mit einer hinreichenden Steigerungsrate so fortzuführen, daß die materiellen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung befriedigt werden können. (Hier liegt der Schlüssel für das Problem der Schwarzen-Ghettos, unzureichender Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, den Verfall der Städte und die zunehmende Verachtung der jungen Radikalen für die Gesellschaft der Erwachsenen, in die sie eintreten sollen.)

Stattdessen standen im Mittelpunkt dieser Entwicklung gewaltige Wahlgeschenke für Finanzinteressen, aus denen lediglich kostspielige und unproduktive Bürokratien ausgebrütet wurden, während Milliarden von Dollar in eine krebsartig wuchernde Spekulationsorgie flossen. Die sozialistische Antwort darauf ist ganz offensichtlich nicht die Umverteilung der sich daraus ergebenden Armut. Die sozialistische Aufgabe ist es, diese Wirtschaft erfolgreich neu zu organisieren und zu leiten, wo das kapitalistische Management so kläglich versagt hat. Sich für eine kommende gesellschaftliche Krise vorzubereiten heißt ein Programm der sozialistischen Re-Industrialisierung der amerikanischen Wirtschaft zu erarbeiten, zu propagieren und dafür zu organisieren.

New York, NY 26. März 1967

 

Weltweite Depression droht

Die Weltwirtschaft des US-Imperialismus befindet sich jetzt in der Eröffnungsphase einer wahrscheinlichen neuen allgemeinen Krise. Alles deutet darauf hin, daß eine Wiederholung des Krachs von 1929-31 droht, nur in vergrößertem Umfang und eher zum Atomzeitalter passend. Weder kann dafür ein genaues Datum angegebenen werden noch ist die Pleite für die nahe Zukunft eine Gewißheit. In diesem Stadium des Prozesses ist auch die Depression selbst nicht die Hauptsache, es ist vielmehr die Bedrohung durch eine solche Krise, die den Verlauf der gegenwärtigen Weltgeschichte bestimmt.

Die hier vertretenen Auffassungen haben nichts gemein mit Vorstellungen, die fälschlich Marx zugeschrieben werden, wie zum Beispiel der vulgären »marxistischen« Auffassung, daß »unvermeidliche« Depressionen Arbeiter »spontan« in Sozialisten verwandeln. Im Gegenteil, wie Lenin betont hat, wird die herrschende Klasse niemals von einer Wirtschaftskrise getroffen, die absolut unlösbar wäre. So lange sie sich der Einwilligung von Arbeitern und Kolonialvölkern sicher sind, besteht für die US-amerikanischen Finanziers die Möglichkeit, durch einige radikale Veränderungen in bestehenden Institutionen eine Lösung im Einklang mit ihren Interessen zu finden. Die Geschichte dieses Jahrhunderts hat gezeigt, daß die Imperialisten unterm Strich damit Erfolg hatten, jeder neuen ökonomischen Bedrohung auf diese Weise zu entgehen. Ob durch Kriege, grausame Hexenjagden, Anschläge auf die Reallöhne der Arbeiter oder als letzte Zuflucht durch den Faschismus, die Hauptzentren des Kapitalismus haben die Fahne des Kapitalismus noch durch jeden Wirtschaftssturm hindurch hochzuhalten vermocht. Dramatische Wendungen des Verlaufs der Weltgeschichte, auch große Revolutionen, werden nicht automatisch durch Depressionen herbeigeführt, sondern durch Erhebungen, wie Kriege oder große Arbeitskämpfe, die durch die Bemühungen der herrschenden Klasse zur Abwendung oder Überwindung einer Wirtschaftskrise ausgelöst werden.

Die heutigen Anzeichen einer nahe bevorstehenden wahrscheinlichen Wirtschaftskrise bedeuten daher nicht den unvermeidlichen Absturz. Vielmehr nötigen solche Vorzeichen die herrschenden Kreise in den USA dazu, die Lösung für ihre ökonomischen Probleme auf Kosten der Reallöhne, durch Krieg und durch eine ganze Reihe von Neuerungen auf dem Gebiet der sozialen Beziehungen, der moralischen Einstellungen und der politischen Einrichtungen zu suchen.

Heute wie vor jeder solchen Krise (wie z.B. 1914, 1939) sind es die Imperialisten selbst, die die etablierten Einrichtungen der Klassenzusammenarbeit untergraben (»Lohnleitlinien«), die Kriege anzetteln (Vietnam), die heute moralische Empfindungen mit Füßen treten, die sie gestern noch allen Schichten der Bevölkerung eingeimpft haben (schwindende Glaubwürdigkeit der Regimes Kennedy, Johnson). Es ist die Tendenz zur Steigerung und raschen Aufeinanderfolge solcher radikalisierenden Handlungen, die von den herrschenden Kreisen ausgehen, heute so wie im Falle der Französischen Revolution. Jenen Kreisen bleibt heute dazu genauso wenig wie Ludwig XVI eine andere Wahl als aus Perioden heraufziehender Krisen solche von Brüchen und Wendepunkten der Geschichte werden zu lassen. Aus dieser Tendenz entsteht das, was eine Periode wie die unsere heute zu einer von Kriegen, großen sozialistischen Kämpfen und sogar von Revolutionen werden läßt.

Gewiß steht diese Auffassung im Gegensatz zu solchen Schulen, die einen mechanischen Zusammenhang zwischen »radikalisierenden Faktoren« und Volkserhebung aufstellen wollen. Der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte ist jedoch der Konservatismus der Unterdrückten, der Beherrschten; deren störrischer Widerwille, institutionelle Veränderungen in ihrem eigenen Interesse vorzunehmen, ihre anhaltende Anhänglichkeit an das alte Regime bis zu einem Punkt, der weit über das vernünftige Eigeninteresse hinausgeht, verlangt nach der Revolution. Nur wenn eine Wirtschaftskrise in eine gesellschaftliche und politische Krise umschlägt, brechen die Dämme der Geschichte und lange überfälliger gesellschaftliche Wandel wird mit einer Gewaltsamkeit enfesselt, die der Tiefe und Dauer entspricht, mit der er vorher unterdrückt wurde.

Sozialistische Rhetorik und die »neue Realität«

Selbstredend haben die meisten Sozialisten es bisher abgelehnt, sich eine solche Sicht der Gegenwartsereignisse zu eigen zu machen. Während der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre sind die in Scherben liegenden alten sozialistischen Parteien, aus Enttäuschung über das Ausbleiben der Nachkriegsdepression, zum vorherrschenden liberalen Mythos übergelaufen, wonach die US-Wirtschaft nach dem Kriege mit ihren »eingebauten Stabilisatoren« eine praktisch gegen Depressionen gefeite Autarkie sei.

Soweit die vielen entmutigten alten Radikalen aktive Sozialisten blieben, gründeten sie ihre Perspektiven auf Revolutionen in den Kolonialländern, sie hatten die Hoffnung aufgegeben, daß es »hier passieren« könnte. Es hat seine Ironie, daß sie im allgemeinen den gegenwärtigen US-Imperialismus als »etwas Neues«, etwas »Marx Unbekanntes«, das der marxistischen Analyse nicht zugänglich ist, im wesentlichen mit denselben Begriffen wie Eduard Bernstein definiert haben in seiner Analyse der deutschen Wirtschaft in den Jahren 1897-99. Was die wissenschaftlichen Verdienste solcher vorherrschenden »sozialistischen« Auffassungen anbelangt, so genügt es, Rosa Luxemburgs »Reform oder Revolution« zu zitieren, denn diese Schrift ist zu diesem Punkt als wissenschaftliche Arbeit heute von genau der gleichen Bedeutung wie in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts. Es genügt zu sagen, daß den meisten Sozialisten die geschichtsbestimmenden Entwicklungen, die gegenwärtig von der ökonomischen Basis des Weltimperialismus der USA empordringen, überhaupt nicht bewußt werden.

1958 - ein Wendepunkt

Anders als diese Sozialisten ist die Führungsschicht der Finanzintelligenz nicht überrascht. Es ist aktenkundig, daß sich diese Kreise der Gefahr für den Imperialismus seit den späten vierziger Jahren bewußt sind, als sie nur knapp einer Explosion der inflationären Kräfte dieser Periode entgangen sind. Vorausgesehen wurde der mehr oder minder unvermeidliche Beginn der gegenwärtigen Krise nicht später als 1958. Zu der Zeit war offenkundig, daß die Investitionswunder in Westeuropa, Japan und anderswo im entwickelten kapitalistischen Sektor Mitte der sechziger Jahre ihr Ende finden würden. Wenn es so weit gekommen sein würde, stünde der US-Imperialismus - wie im Augenblick - vor der Bedrohung durch eine allgemeine Währungskrise, wie sie auf jede Periode langanhaltender Kreditexpansion folgt (Karl Marx, Kapital, Band III)

Eben diese Voraussicht hat die führenden Finanzkreise dazu getrieben, eine angemessene neue Strategie zu entwickeln, um den schwankenden Boden der Nachkriegsprosperität zu ersetzen. Die allgemeine Form einer solchen Lösung, auf die sich das maßgebliche imperialistische Denken notwendig hinbewegen muß, würde ein Wirtschaftshistoriker als die dritte Stufe des Imperialismus bezeichnen. Das bedeutet eine grundlegende Veränderung der allgemeinen Formen der Ausbeutung der unterentwickelten durch die fortgeschrittenen Sektoren hin zu einer erzwungenen Kombination der industriellen Entwicklung sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den unterentwickelten Sektoren. Das ist die strategische Zukunftsaussicht der offiziellen imperialistischen US-Politik spätestens seit der Rede Eisenhowers zur Lage der Union über Außenpolitik im Jahre 1960.

Wie Politik gemacht wird

Es soll hier dem »ökonomischen Determininismus« nicht etwa eine »konspiratorische« Geschichtsbetrachtung gegenübergestellt werden. Wenn man prüft, auf welche Weise Führungskreise neue Verfahrensweisen und Taktiken entwickeln und einführen, dann scheint deren Verlauf eine Geschichtsdarstellung zu rechtfertigen, die für den Pragmatismus typisch ist.

Die erwünschte neue imperialistische Ordnung entsteht als Vorhersicht einer schmalen Fraktion der führenden bürgerlichen Intelligenz. Solche breit angelegten neuen Strategien werden zunächst nur von einer schmalen Schicht von Finanziers begriffen, deren Alltagsleben ihnen in allen wichtigen Fragen ihres Eigeninteresses eine weltweite Sicht aufzwingt. Angeleitet von einer solchen noch verschwommenen Voraussicht, belastet dagegen mit der Unbeholfenheit und dem Kretinismus der Gesetzgebungs- wie der Verwaltungsbürokratie, durch die solche Vorhaben eingeführt werden müssen, stolpern, tappen und pfuschen sich die herrschenden Kreise vorwärts und haben dabei nicht nur mit den objektiven Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern auch mit dem Provinzialismus und der konzeptionellen Inkompetenz der zahlreicheren und rückständigen Schichten ihrer eigenen Klasse.

Auf Schritt und Tritt wird ihr Vorgehen noch zusätzlich erschwert durch die Trägheit, die in die Ansammlung der verschiedenen Klassen- und Kasteninteressen eingebaut ist, die sie zur Stützung ihrer Regimes und als deren breitere gesellschaftliche Basis errichtet haben. Durch wildes Vorwärtstasten werden die Vorhaben und Strategien ständig abgewandelt. Ein Experiment schlägt fehl, wie zum Beispiel die kurzlebige Politik für Castro: darauf die Kehrtwendung; ein anderes Experiment fällt ins Wasser, wie zum Beispiel der wacklige Aufbau der »Allianz für den Fortschritt«: ein Rückzug folgt; dann ein neuer Anschub... In einem derartigen Zickzack werden sie weniger aus Absicht auf Kurs gehalten, sondern durch die Schläge, die ihnen ein ungeduldiges Eigeninteresse versetzt.

Gesetze der bürokratischen Reaktion

Es ist genau diese Eigenschaft der Staatsbürokratie, durch die sich die meisten »Experten« und Beobachter des politischen Prozesses in die Irre führen lassen. Damit ist gemeint, daß die meisten unserer kommentierenden Zeitgenossen eine gesetzmäßige Darstellung des Laufs der Zeitgeschichte in der inneren Struktur des Lebens der Bürokratie, in den Rationalisierungen der Positionspapiere oder sonstwo zu finden versuchen. Die von ihnen tatsächlich aufgestellten Voraussetzungen zeigen aber, daß sie die grundlegenden Dinge übersehen haben. Während sie dieses oder jenes Bein oder vielleicht den Schwanz der Elefantenbürokratie untersucht haben, und das auch noch mit dem genauesten Handwerkszeug des Gelehrten, verfehlen sie so etwas Wesentliches wie die Natur der Bürokratie als einer gesellschaftlichen Formation und die Widersprüche zwischen den Maßgaben ihrer bürokratischen Interessen und den Interessen des Systems, dem zu dienen sie errichtet worden sind.

Das heißt, daß die bürgerliche Staatsbürokratie, eine Unternehmensbürokratie, die Sowjetbürokratie oder eine Gewerkschaftsbürokratie unmittelbare Interessen haben, jede als besondere gesellschaftliche Formation, die selten in Symmetrie mit, häufig aber in Gegensatz zu solchen der größeren gesellschaftlichen Formation kommen, eben der Basis, von der das Bestehen der Bürokratie abhängt. Im Alltag mag es so scheinen, als würden die inneren Gesetze der Bürokratie zu einer Aufgabe der gesellschaftlichen Basis ihres eigenen Bestehens führen. Wenn man jedoch die Sache bis zum Ende betrachtet, sieht man, daß sie, wenn auch unförmig und unausgegoren, auf die Interessen der Basis reagieren. Zum Beispiel hat sich Stalin, nachdem er die Führung der Roten Armee, die das Land auf einen Krieg gegen Nazideutschland vorbereiten wollte, abgeschlachtet; nachdem er mit Hitler einen Handel abgeschlossen, der gegen das Interesse der sowjetischen Nation gerichtet zu sein schien - und war - , nachdem er die Interessen der UdSSR bis zu diesem Punkt blutig verraten hatte, zum Marschall der Verteidigung der Sowjetunion gemacht. Genau so verhält es sich mit einer Gewerkschaftsbürokratie, die ihre Mitglieder ein ums andere Mal mit versüßten Tarifverträgen und sonstigem verkaufen mag, aber, wenn auch zögerlich, dann einen militanten Streik anführen wird, wenn es darum geht, die Existenz ihrer Basis zu verteidigen. In allgemeiner Form treffen diese Grundsätze auch auf die Staatsbürokratie der Bourgeoisie zu.

Die Wirklichkeit des Prozesses wird bestimmt durch die Interaktionen von Staatsbürokratie und Ökonomie. Die Wirtschaft wirft ein Problem auf, das die Bürokratie lösen muß. Doch kann es vorkommen, daß die Bürokratie, vielleicht weil sie in diesem Fall mehr im Einklang mit ihren bürokratischen Interessen als solchen denn im Interesse der imperialistischen Ökonomie handelt, keine Lösung liefert oder ein falsches Vorhaben in Angriff nimmt. Doch damit ist der Fall noch nicht zu Ende.

Untätigkeit oder Tätigkeit der Bürokratie selbst haben materielle Folgen für die Wirtschaft, die umgekehrt der Bürokratie wiederum neue, von ihr zu lösende Krisen bescheren und so weiter. Das heißt also, daß die gesetzlichen Abläufe der Bürokratie nicht herrühren aus den inneren Prozessen der Bürokratie als solcher, sondern aus dem Wechselverhältnis zwischen der Exekutive und der Ökonomie.

Innere Entwicklung der Bürokratie

Die vorangegangenen Ausführungen lassen noch ein Problem zu klären übrig, bevor wir dem Imperialismus eine bestimmtes Vorhaben zuschreiben können, eine Strategie der »Dritten Stufe des Imperialismus«. Nichtmarxisten, die sich mit dem Thema der Ursprünge staatlicher Politik befaßt haben, haben argumentiert, daß die Entscheidungen der Regierungsbürokratie für gewöhnlich nicht ein bewußtes Verständnis der relevanten historischen ökonomischen Interessen des Imperialismus zur Voraussetzung haben. Bis zu diesem Punkt hat der gelehrte Empiriker tatsächlich Recht. Dasselbe läßt sich von der Unternehmensbürokratie sagen, deren Voraussetzungen und Verfahren der Entscheidungsbildung nicht aus Absicht (sic) den langfristigen ökonomischen Unternehmensinteressen entsprechen. Doch begeht der Nichtmarxist, nachdem er dies festgehalten hat, einen fatalen Fehler, indem er extrapoliert: »Deswegen«, so folgert er, »wird die US-Politik nicht von imperialistischen historischen ökonomischen Interessen bestimmt.«

Diesem empiristischen Irrtum gegenüber läßt unser eigenes Argument bis hierhin eine vollständige Alternative vermissen. Es bleibt die Frage: wenn die inneren Maßstäbe des Handelns der Staatsbürokratie zumindest nicht unmittelbar die des ökonomischen Interesses des Imperialismus sind, wie geschieht es dann, daß die von den Umständen ausgeteilten Schläge ihr dennoch die Gebote eines solchen gesetzmäßigen Ausdrucks der Interessen auferlegen?

In erster Annäherung an eine Antwort kann man seine Aufmerksamkeit passenderweise der Unternehmensbürokratie zuwenden, einem der Staatsbürokratie sehr ähnlichen Gebilde, das dem empirischen Fallstudienbearbeiter obendrein noch den Vorteil der »Wiederholbarkeit« der Gesetzmäßigkeit bietet. In solchen Fällen können wir sehen, daß die Unternehmensbürokratie, deren innere Voraussetzungen dem Unternehmensinteresse zuwiderlaufen, tatsächlich in einer Entsprechung zu einer Generallinie funktioniert, die von einer objektiven Bewertung des gesetzmäßigen Eigeninteresses des Unternehmens vorgeschrieben wird.

Die Führung eines Unternehmens ist aus Abteilungen zusammengesetzt, wie Verkauf und Marketing, Herstellung, Einkauf, Buchführung und Finanzen usw. In der Arbeitsweise der Bürokratie werden all diese getrennten Funktionen aus einer Perspektive heraus erfüllt, die zu den Nebenabteilungen im Widerspruch steht. Man betrachte zum Beispiel die Belange von Handel und Richtlinien der Lagerhaltung, wo die Interessen des Verkaufs mit denen der Fertigung heftig aufeinandertreffen, während beider Interessen denen des Finanzwesens heftig zuwiderlaufen. Wenn die »natürliche« Sicht einer der Abteilungen längere Zeit überwiegen würde, ginge das Unternehmen bankrott. Doch das tatsächliche Funktionieren der Unternehmensführung liegt nicht darin, was Bürokraten über das Unternehmensinteresse denken oder wissen, sondern im »effizienten Zusammenwirken« der einander widerstreitenden Abteilungstendenzen.

Freilich ist damit die Angelegenheit nicht zu Ende. Als eine gesellschaftliche Formation ist die Bürokratie selbstredend bestrebt, sich zu erweitern, für sich vermehrte Überschüsse abzuzweigen - sogar auf Kosten von Aktionären und Finanziers, um sich selbst zu vergrößern. Das Korrektiv zu dieser Tendenz und zu anderen Fehlfunktionen, die aus der Bürokratie selbst heraus entstehen, kommt aus den Prozessen im Bereich der Finanz. Entgegen den landläufigen Mythen vom »korporativen Kapitalismus« ist eine Unternehmenskörperschaft keineswegs autonom. Ihre Existenz und ihre internen Geldmittel hängen in den meisten Fällen von Kreditquellen außerhalb des Unternehmens ab.

Selbst in solchen wenigen Fällen, in denen die Unternehmen von der Wall Street unabhängig zu sein scheinen - und das scheint lediglich so - sind sie den Gesetzen der Finanz unterworfen. Sie sind Kreditnehmer im Hinblick auf den Kredit, der ihnen von Verkäufern und anderen gegeben wird, und sie sind kreditschöpfend tätig gegenüber den Verbrauchern und ihren eigenen Händlern; einige darunter sind Finanziers in dem Sinne, daß sie größere Mengen von Finanzkapital in den allgemeinen Kapitalmarkt exportieren. Sie sind heute im wesentlichen genau das, als was sie Rosa Luxemburg vor sechzig Jahren gesehen hat.

Geringfügige Änderungen der Kapitalrendite und der vorherrschenden Zinssätze veranlassen den Abfluß und Zufluß von Massen von Kapital und Kredit in das Unternehmen hinein und aus dem Unternehmen heraus. Dabei legen sie den Streit um Handel und Lagerhaltung, Personalwirtschaft und Büroerweiterungen usw. in einer Weise bei, die keinen Widerspruch duldet. Es ist das Finanzwesen, daß letztlich den Fluß von Zahlungsmitteln im Unternehmen bestimmt, durch welchen die Bürokratie sich als gesellschaftliche Formation reproduziert, dabei Funktionen hinzufügt oder entfernt, und schließlich die Investitionstätigkeiten verfolgt, die das Ergebnis ihrer Führungsentscheidung darstellt.

Wie sich Bürokratie entfaltet

Die Entwicklung einer auf die Unternehmensinteressen zugeschnittenen Bürokratie entsteht nicht aufgrund eines Konstruktionsentwurfs. Wie dieser Prozeß der Evolution vor sich geht, läßt sich im Zusammenhang mit der Computerindustrie verfolgen. Da der Computer heute seine Hauptanwendung in der Verwaltung findet, sollte ein Computersystem von der Funktion bestimmt sein, die es in der Führung erfüllen sollte. Dennoch kündigt die Einführung von Computertechnologie in den Firmen vernichtende Umwälzungen der inneren Struktur der Bürokratie an.

Zunächst folgte man dem Weg des geringsten Widerstandes und verfolgte den Zweck, die Nutzung auf bestehende Buchhaltungsverfahren und damit verbundene Tätigkeiten auszudehnen. Dieser Ansatz erwies sich im wesentlichen als Fehlschlag; dann begann man zu verstehen, daß der Computer Änderungen in der organisatorischen Konzeption einer Unternehmenskörperschaft erforderlich machte, woraufhin die Vorstellung total computerisierter Unternehmenssysteme ausgebrütet wurde. Das führte zu dem Ergebnis, daß die Früchte der Technologie an die Bedürfnisse einer in Entstehung begriffenen veränderten Form der Unternehmensorganisation angepaßt wurden. Die Entwicklung der Computer in diese Richtung tendieren nun dazu, entsprechende Organisationsänderungen nach sich zu ziehen.

Gleichwohl erfordern die Verwendung von Computern und der Entwurf von Anwendungen massive Ausgaben, die, im Unternehmensjargon gesprochen, gerechtfertigt werden müssen. Daher müssen Computersysteme und Anwendungsplanung und -entwicklung der Linie der ökonomischen Interessen des Unternehmens folgen, wie auch die darin inbegriffenen Umwälzungen innerhalb der Unternehmensbürokratie derselben Linie folgen muß.

In ähnlicher Weise entsteht und entfaltet sich aus jeder solchen neu entwickelten »Funktion« der Bürokratie eine klar unterscheidbare Beziehung zur Bürokratie als ganzer. In dieser ständigen Bemühung, neue »Funktionen« aufzuwerfen und Beziehungen zwischen Funktionen neu zu bestimmen, vollzieht sich die Anpassung der Bürokratie selbst an die Linie der gesetzmäßigen ökonomischen Interessen.

Die Regierungsbürokratie hat, nicht aus Zufall, allgemein dieselbe Form. Ihr Entwicklungsgang hatte zuallererst den Zweck, mächtige Instrumente zur Handhabung öffentlicher Finanzen und öffentlichen Kredits bereitzustellen, um Kredit für die Fortdauer des kapitalistischen Marktes zu schaffen, indem die zukünftigen Steueransprüche und -erwartungen des Staates in großem Umfang verpfändet wurden. Diese Ressourcen stellt sie nicht nur für den inneren Gebrauch, sondern auch den äußeren bereit und entwickelt parallel dazu die anderen wesentlichen Instrumente wie die Militär- und Geheimdienstapparate, die »eingebauten Stabilisatoren« sowohl ökonomischer als auch sozialer Funktion, um die rein ökonomische Seite dieses Unternehmens zu stützen, genau so wie die Verkaufsabteilung, die Fertigung und die Beziehungen zu den Arbeitern in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den Finanzen stehen.

Die Wechselbeziehung zwischen Zentralbanksystem und dem Schatzamt (Federal Reserve Act), zur Institution gemacht in den Nachwirkungen der Panik von 1907 und weiter entwickelt in den Nachwehen der Krise von 1929-31, bietet eine Seite dieser Entwicklung dar. Das militärische Establishment, dessen wichtigste Wirkung für die Wirtschaft die Subvention privater Kapitalgewinne durch öffentliche Fonds ist, wuchs aus der Unfähigkeit des Kapitalismus in den USA, der Depression der dreißiger Jahre mit privaten Mitteln zu entkommen. Sogar eine solche Sonderentwicklung wie die Entscheidung über die Bürgerrechte im Jahre 1954 ereignete sich an einem besonderen Zeitpunkt der nationalen ökonomischen Entwicklung, wo Investoren bei der Ausgliederung ihrer Fabriken in den Süden über die Tatsache besorgt waren, daß die billigen schwarzen Arbeitskräfte dort so unzureichend ausgebildet waren, daß sie für eine moderne Industrie keine qualifizierte Arbeitskraft darstellten. (Vgl Winthrop Rockefeller versus Faubus.) Auf diese Weise eignet sich der Staat neue Funktionen an, in Wechselwirkung mit alten, um unterm Strich entsprechende Reaktionen auf die ökonomischen Interessen des Imperialismus zu erbringen.

Methoden politischer Analyse

Die Folgen und das gesetzmäßige Verhalten von gesellschaftlichen Formationen liegen nicht in den Absichten der Individuen, die ihnen als Mitglieder angehören, sondern in der Struktur der gesellschaftlichen Formation als ganzer. Die Überzeugungen der einzelnen Mitglieder entsprechen im allgemeinen nur in einer phantastischen Form den Funktionen, die sie ausüben. Gelegentlich kann man von Ausnahmeindividuen, eben denjenigen mit einem Überblick über die Bürokratie, Absichtserklärungen hören, die mit macchiavellistischer Offenheit vorgetragen werden, doch für die Angehörigen der bürokratischen Intelligenz in Reih und Glied gilt, daß ihre Erklärungen in Bezug auf Voraussetzungen und Themen lediglich die Bedeutung religiöser Bekundungen, von Rationalisierungen haben.

Die einzige Lösung der Probleme, die sich der wissenschaftlichen Untersuchung hier stellen, ist in erster Linie, die Gebote der historischen ökonomischen Interessen zu kennen und dann dem Prozeß nachzuspüren, in dem die Bürokratie auf die Imperative reagiert, die ihr durch Probleme aufgebürdet werden, in denen sich manifeste imperialistische Eigeninteressen reflektieren.

Unsere Aufgaben bei dem Versuch, für die neue Politik, zu der sie gezwungen sind, den Beweis zu erbringen, sind daher dreierlei. Erstens muß das Problem bestimmt werden, welches den Imperialismus dazu zwingt, eine neue allgemeine Strategie zur Erhaltung seines weiteren Bestehens zu suchen. Zweitens müssen die wesentlichen Merkmale der angezeigten Lösung zusammengefaßt werden. Drittens und letztens muß gezeigt werden, daß bei dem versuchten Übergang des Imperialismus von der gegenwärtigen zu einer neuen Strategie ein Wendepunkt in der Geschichte geschaffen wird, an dem die Frage des Sozialismus in den fortgeschrittenen Ländern wieder von der Ebene der Betrachtung zu einem Thema der Praxis verlagert wird.

Nachkriegsboom - Westeuropa

Das Unvermögen der meisten amerikanischen Sozialisten, die Grundlage für die Nachkriegsprosperität zu verstehen, liegt allgemein in ihrem Unwissen über die Ökonomie begründet; und da, wo einiger ökonomischer Sachverstand vorlag, war der Ansatz die fehlgeleitete Voraussetzung einer »nationalen« Wirtschaft. Selbst heute wird dieser letztere Irrtum in einigen der glaubwürdigsten sozialistischen Kreise weiter verfolgt; so auch im Falle von Barans und Sweezys »Monopolkapital«. Dort abstrahieren die Autoren fälschlich die Frage der Profite und Profitraten der US-Konzerne von ihrer Basis in einer von den USA beherrschten Weltwirtschaft. Dadurch gelangen sie zu besonderen Schlußfolgerungen, die in der Tat im Gegensatz zur weiter gefaßten Realität ausfallen.

Dies ist an sich schon ein sehr bedeutsamer Punkt unserer unmittelbaren Untersuchung, den wir sehr bald weiter unten aufgreifen werden. Die erste Annäherung zu einer richtigen Sicht wird in dem Papier über den Imperialismus von Harry Magdoff gegeben. Die Nachkriegsprosperität der US-Ökonomie war direkt begründet auf Investitionen der USA im fortgeschrittenen Sektor außerhalb der USA. Freilich versucht Magdoff außer mit einigen vorübergehenden Beobachtungen in der richtigen Richtung nicht über diese Beobachtungen hinauszugehen, das heißt zu zeigen, wie die gesamte kapitalistische Entwicklung des entwickelten Sektors von ihren Beziehungen zum unterentwickelten Sektor abhängt.

Wegen des begrenzten Umfangs von Magdoffs kurzem Papier haben ihm einige sozialistische Gelehrte unzutreffend entgegengehalten, daß er es in Wirklichkeit gar nicht mit dem Imperialismus zu tun habe, weil sie »Imperialismus« mit »Kolonialismus« verwechseln. Jedenfalls hat Magdoff phänomenologisch seine Behauptung bewiesen, daß die Profitabilität des US-Imperialismus auf nationaler Ebene unmittelbar abhängt von den wachsenden Investitionen in den fortgeschrittenen Sektoren in Übersee. Gerade die Erschöpfung dieser Investitionsmöglichkeiten, symptomatisch dargestellt durch die britische Krise und die gegenwärtige Rezession in Deutschland, kehrt den Nachkriegsboom in die Drohung einer allgemeinen Krise um. Westdeutschland, Frankreich, Italien, Japan, allesamt in Kriegsruinen mit ihren Massen von billigen, unbeschäftigten, aber ausgebildeten Arbeitskräften, haben die objektive Grundlage abgegeben für die massive Kreditexpansion der USA und die Investitionen in Übersee. Auslandshilfe verschiedener Art nach dem Vorbild des »Marshall-Plans« stellte die sogenannte »Infrastrukturentwicklung« bereit, die notwendig war, damit private Kapitalinvestitionen der Dollarhilfe folgen konnten.

Sieg des Sozialismus war möglich

Auch Britannien wurde durch den US-Imperialismus im Zuge des Zweiten Weltkrieges »erobert«, wenn auch nicht in demselben Ausmaß wie die Ökonomien des Kontinents. In den kontinentalen Wirtschaftssatrapien des Nachkriegsimperialismus wurden enorme Mengen veralteten Kapitals abgeschrieben, wodurch diese Ökonomien frei wurden für einen »neuen Entwicklungsbeginn« auf der Grundlage der modernsten Fabriken und Ausrüstungen. Dagegen wurde Britanniens im wesentlichen überalterter Kapitalstock beibehalten. Dieser Unterschied, im Hinblick auf den das koloniale Frankreich etwa in der Mitte zwischen dem kolonialen Britannien und den Ländern ohne Kolonialbesitz wie Deutschland oder Italien steht, rührt von der Tatsache her, daß das britische Pfund, mit seinen weit ausgreifenden kolonialen Ressourcen und den zugehörigen Währungsreserven, für den Dollar ein unentbehrliches Bollwerk darstellte. Da Britanniens obsoletes Kapital im Lande einen Teil der Wertdeckung des Pfundes übernahm, konnte man altertümliche Fabriken nicht einfach abschreiben. Stattdessen wurde der Durchschnittswert des Pfundes im Verhältnis zum Dollar letztlich auf Kosten der britischen Arbeiter und der Kolonialvölker vermindert und dabei das von Überalterung angefressene Pfund zur härteren Währung getrimmt, um die inflationierte Meisterwährung, den Dollar zu stützen.

Doch war dies nicht der unvermeidliche Ausgang des Krieges. Erst als der französische Maquis seine Waffen an General de Gaulle übergab - auf Stalins freundlichen Rat hin - , als die französischen Kommunisten in die provisorische Regierung de Gaulles als »Streikbrecher« eintraten (bis sie mit Undank von der französischen Bourgeoisie wieder entlassen wurden), war Frankreich, und damit Deutschlands Flanke für den US-Imperialismus gesichert. Denselben Hergang kann man im Nachkriegsitalien verfolgen. Eine sozialistische Revolution in Westeuropa zu jener Zeit, als die GIs mit ihren Streiks kundtaten, daß sie an der Niederschlagung solcher Revolutionen nicht interessiert waren, hätte ganz Europa mit sich gerissen und das kapitalistische Weltsystem umgehend an sein Ende gebracht. Doch die französischen und italienischen kommunistischen Führer haben den Sozialismus verraten und der Rest ist Geschichte.

Nachkriegsboom - Kolonialwelt

Eine formale internationale Bilanzierung gibt der Abhängigkeit der imperialistischen Prosperität in den fortgeschrittenen Ländern von dem wachsenden Elend der unterentwickelten Länder zu wenig Gewicht. Magdoff weist auf die rechnerische Seite der Angelegenheit hin, wenn er Bezug nimmt auf den allgemeinen Kapitalabfluß von den unterentwickelten zu den fortgeschrittenen Ländern. Eine höhere Ausbeutung, die sich in den Berechnungen nicht zeigt, ergibt sich durch die niedrigen Preise, zu denen die unterentwickelten Länder verkaufen und den relativ hohen Preisen, zu denen sie importieren müssen. Wenn Arbeit in den Kolonialländern auf der Basis von einfacher Arbeitszeit nach europäischen Maßstäben bezahlt würde - was allerdings nicht die Basis für Löhne unterm Kapitalismus ist - gäbe es eine riesige Preissteigerung bei den Rohstoff- und Plantagenexporten aus den unterentwickelten in die entwickelten Länder, was direkt eine Verminderung des Bruttosozialproduktes und eine scharfe Profitminderung nach sich zöge. Eine ähnliche, doch weit geringere Verminderung des Sozialproduktes in den USA und Westeuropa würde sich ergeben, wenn die Lohnarbeit in den Kolonialländern wenigstens auf der Grundlage ihrer relativen Arbeitsproduktivität (gemessen an europäischen Maßstäben) bezahlt würde. Dies gibt uns ein erstes annäherndes Bild vom allgemeinen Verhältnis zwischen den beiden Sektoren, doch noch nicht die endgültige Antwort.

Der entscheidende Sachverhalt bei den unterentwickelten Ländern ist der Reichtum an Arbeitern, wogegen das Arbeitsvermögen, d.h. die Produktivität sehr niedrig ist; ihnen fehlen Fertigkeiten, ihnen fehlen die modernen Produktionsmittel, mit Hilfe derer sie mit den Arbeitskräften in den USA oder Europa in »Wettbewerb« treten könnten. So wird ein Produkt, das zu seiner Herstellung durch die kolonialen Völker viele Stunden Arbeitszeit benötigt, für den Gegenwert in Geld getauscht, für den man ein Produkt erhält, das nur ein paar Stunden oder weniger an Arbeitszeit zu seiner Herstellung in den entwickelten Ländern benötigt. Ein Hinweis darauf läßt sich finden in Zahlenvergleichen zwischen dem Bruttosozialprodukt und dem Nationaleinkommen pro Kopf zwischen den Wirtschaften der verschiedenen Sektoren. Wie viele Arbeitsleben und wieviel hundert Arbeiter sind in Lateinamerika oder Indien nötig, um die modernen Maschinen zu kaufen, mit denen Beschäftigung für einen einheimischen Arbeiter unter modernen Produktionsbedingungen geschaffen werden kann?

Wenn man England und Indien miteinander vergleicht, zum Beispiel im siebzehnten Jahrhundert, so sehen wir, daß die Kluft beim Beginn der Einführung der »Vorteile des Kapitalismus« zu den »unterprivilegierten Heiden« keineswegs so groß war. Das gegenwärtige Elend ist in der Tat der »grundsätzliche Segen (oder Fluch) der Zivilisation«, den Europäer und Amerikaner ihren dunkelhäutigen Brüdern beschert haben. In dieser Kluft ist in Wirklichkeit die Geschichte des Kapitalismus im gegenwärtig unterentwickelten Sektor in ihrer Verdichtung verkörpert: ursprüngliche Akkumulation. Kapitalistische Plünderung und Handel in den Kolonien, imperialistische Investitionen haben diese Sektoren systematisch ihres gesellschaftlichen Kapitals beraubt, des im Lande geschaffenen Sozialprodukts, das Produktionsmittel hätte liefern können, um diesen Ländern den Anschluß an die fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen zu ermöglichen.

Der Fall der Profitrate

Diese Erscheinung wird durch eine Tendenz im Kapitalismus verschärft, die als »Fall der Profitrate« bekannt ist. Das heißt, daß eine erhöhte organische Zusammensetzung des Kapitals (Verhältnis von Kosten der Produktionsmittel zu den Löhnen) eine Tendenz zum Fall der Profitrate der kombinierten kapitalistischen Investitionen nach sich zieht. Die offenkundige »Verletzung« dieses Gesetzes in der Nationalökonomie der USA ist das Kernstück der Abhandlung von Baran / Sweezy über das Monopolkapital. Entgegen den Annahmen von »Monopoly Capital« ist der tendenzielle Fall der Profitrate weder eine kurzfristige Angelegenheit (von einem Jahrzehnt oder zweien) noch ein »nationales« Phänomen. Seit der Weltmarkt mit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein vollständig verbundenes Ganzes geworden ist, kommt das Gesetz des Falls der Profitrate, wie auch das der durchschnittlichen Mehrwertrate nur im Weltmaßstab zum Ausdruck. Jedwede isolierte nationale Untersuchung der Erscheinung muß Ergebnisse hervorbringen, die notwendig im Gegensatz zur Wirklichkeit sind wie in Monopolkapital. Wie Marx gezeigt hat, wird der Preis der Waren im besonderen nicht durch ihren Wert bestimmt, sondern durch ihren Produktionspreis, das heißt durch eine durchschnittliche Profitrate auf das investierte Kapital. (Die Vorstellung einer Durchschnittsrate ist nicht bloß eine Prozentzahl, sondern variiert von Industrie zu Industrie sowie von Sektor zu Sektor und gleicht sich so weit aus, daß sie mit dem realisierbaren Profit zur Entsprechung kommt: z. B. Liquidität, Risiko, lang- oder kurzfristig usw.) Die »Investitionsentscheidung«, die zu einem Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals an einem bestimmten Standort führt, hat Erwägungen über gesteigerte Produktivität und andere wesentliche Bestandteile der erwarteten Profitrate zur Voraussetzung. Je allgemeiner weiterhin der Kapitalfluß im Zuge der Entwicklung der Weltgeldmärkte und des internationalen Kredits wird, desto freizügiger fließen Kapital und Kredit von einem Sektor oder Subsektor der Weltwirtschaft zum andern. Das Gefälle dieser Verschiebungen ist natürlich die Profitrate.

Auf der Ebene der Firma oder des einzelnen Sektors wird somit die Grenze der Ausdehnung der Produktion durch den Punkt bestimmt, an dem die resultierende Profitrate der Investition unter den »Durchschnitt« fällt, so daß der Kapitalfluß in diesen Sektor aufhört und sich stattdessen anderen Sektoren zuwendet. Wenn durch Preisanstieg in irgendeinem Sektor sich die Profitrate erhöht, fließt Kapital zu, bis die Expansion - Überproduktion beispielsweise - eine Angleichung der effektiven Profitraten bewirkt und so weiter. In diesem Prozeß ist die Steigerungsrate des Profits im Verhältnis zu den Löhnen im allgemeinen weit größer als die Steigerungsrate des Profits im Verhältnis zum gesamten investierten Kapital - aus Gründen, die darzulegen den Rahmen dieses Papiers sprengen würde. Das Ergebnis ist, daß eine Steigerung der Investitionsraten an einem bestimmten Standort die Tendenz hat, die Profitrate in der Welt im ganzen zu vermindern, wiewohl nicht unbedingt in dem Subsektor, in dem die Vermehrung der organischen Zusammensetzung vor sich geht. Da höhere Investitionsraten durch »Investitionsentscheidungen« bedingt werden, die Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität haben, kommt es dazu, daß die entwickelten Sektoren die Folgen ihrer Kapitalinvestitionen auf dem Rücken der weniger entwickelten Sektoren austragen.

Um zu verstehen, wie dies vor sich geht, müssen wir uns nur den Widerspruch vergegenwärtigen, der zwischen einer einzelnen Firma oder einem ausländischen Investitionsbereich eines unterentwickelten Sektors der Ökonomie und der Ökonomie als ganzer besteht. Der tendenzielle Fall der Profitrate, in der Hauptsache im entwickelten Sektor erzeugt, setzt sich nicht so sehr in den Auslandsinvestitionen in den unterentwickelten Sektoren um als vielmehr durch jene Investitionen in der örtlichen Ökonomie, die außerhalb des Sektors der Auslandsinvestitionen liegen. Mit einem Wort: ursprüngliche Akkumulation; der kapitalistische Sektor, der von Auslandsinvestitionen beherrscht wird, erhält seine Profite dadurch, daß er den »einheimischen« Sektor »melkt«. Je mehr sich der Kapitalismus im fortgeschrittenen Sektor ausbreitet, desto heftiger verlagert er die Nachteile seiner Ausbreitung in den halbkolonialen einheimischen, internen Sektor. Daraus ergibt sich, daß diese Bevölkerungen im allgemeinen nicht nur ihrer Mittel zur Schaffung »einheimischen« Kapitals entledigt werden, sondern auch ihrer Existenzmittel. Daher kommt das sich uns darbietende Bild von wachsenden Bevölkerungen, die eine Bevölkerungsexplosion durchlaufen, die in einem bedeutsamen Maße gerade von kapitalistischen Einflüssen verursacht wird, die sie jedoch der Produktionsmittel beraubt, womit sie die materiellen Mittel zur Erhaltung ihrer Existenz erzeugen könnten; Hunger.

Diese Errungenschaft, den Hunger, kann man nicht der fälschlich als genial angesehenen Entdeckung des Pfaffen Malthus zuschreiben, sondern den direkten Auswirkungen des Imperialismus. (Dies schließt eine Erklärung ein, die man nicht mehr als einen Extremfall von Lohnausbeutung bezeichnen kann. Letztere schabt den Reichtum vom schwitzenden Rücken eines Menschen ab; die erstere dagegen saugt sein Blut aus - das heißt buchstäblich Verhungern. Aus offensichtlichen Gründen nenne ich den letzteren Prozeß negative Akkumulation.)

Was also »Monopoly Capital« übersieht, ist die Tatsache, daß die vom US-Kapital kassierten Profite unmittelbar von der billigen, qualifizierten Arbeit anderer fortgeschrittener Länder einerseits und dem massenhaften buchstäblichen Hunger unter Milliarden von Menschen abhängt. Ohne den Mehrwert der US-Konzerne mit dem Verhungern auf der südlichen Halbkugel in Verbindung zu sehen, kann man zu keiner wissenschaftlichen Beurteilung im Hinblick auf Mehrwert oder Tendenzen der »Mehrwert«raten fortschreiten.

Damit soll nicht unterstellt werden, daß der Imperialismus auf diese Weise dem tendenziellen Fall der Profitrate entgeht. Er hat sozusagen aus seinen ärmsten Untertanen den Preis für die Fron herausgeholt, womit er eine gewisse Periode der Freiheit bis zum Tag des unvermeidlichen Gerichts genießen kann. Genau da, wo sich für den US-Imperialismus die Investitionsgelegenheiten in Westeuropa und anderen fortgeschrittenen Sektoren zu erschöpfen beginnen, wird er gezwungen, sich für neue Investitionschancen dem unterentwickelten Sektor zuzuwenden. Seine Bedürfnisse in dieser Frage können nicht gemessen werden in den Größenordnungen des Investitionsbedarfs von 1948 oder 1950, sondern sie verkörpern die um vieles mehr angewachsenen verzweifelten finanziellen Erfordernisse sowohl für sich selbst als auch für die fortgeschrittenen kapitalistischen Satrapien im Ausland. Er kann sich nirgendwo hinwenden als zu jenen unterentwickelten Ländern, die er bereits als Investitionsmärkte für Industrieinvestitionen ausgezehrt hat. Die Mittel zu seiner früheren Prosperität drohen nun zum Werkzeug seines Zusammenbruchs zu werden. So erweist sich die imperialistische Weltwirtschaft als gekrümmt verlaufend wie der Riemannsche Raum.

Die Führungsintelligenz der USA kann es nicht vermeiden, nach einer Lösung für die neuen Probleme unter denselben Bedingungen zu suchen, die bei der letzten Krise einen so spektakulären Erfolg hervorgerufen haben. Die Vorstellung, die Rückständigkeit erschöpfter Ökonomien durch »Marshall«-Pläne zu überwinden ist die institutionalisierte Antwort der Führungsschicht in der Staatsbürokratie, wie sie im Zuge der vergangenen zwanzig Jahre der Prosperität des »Marshall-Plans« verfaßt worden ist.

Nachkriegsboom - Kreditexpansion

Der moderne Imperialismus umgeht die kurzfristigen Gefahr der »Überproduktion«, indem er zuerst die nicht verkaufte Produktion in Sicherheit für Kredit verwandelt - er versetzt in der Tat alle wirklichen und fiktiven Werte, um zusätzlichen Kredit zu schaffen. Dieser Kredit wiederum wird zu Geld durch das Schatzamt und das Zentralbankensystem, Geld, das ebenso hypothekarisch abgesichert wird, um neuen Kredit zu erzeugen - so setzt sich dieser Prozeß fort, immer aufwärts in Richtung einer endlosen Prosperität. Bis zum Tag der Abrechnung.

Die Akkumulation stets anwachsender privater und öffentlicher Schuld fügt hierbei den Kosten in der kapitalistischen Rechnung einen weiteren Posten hinzu: den Schuldendienst. Dieser Schuldendienst setzt sich zusammen aus Zinsen, Gebühren und laufender Tilgung der Hauptschuld. Aus einer Reihe von Gründen, von denen einige zur Veranschaulichung hier angegeben werden sollen, tendiert dieser Posten des Schuldendienstes zu rascherer Zunahme als Mittel zu seiner Abzahlung nachfließen. Wenn nach einer verlängerten Periode der Kreditexpansion - wie der der letzten 25 Jahre - der Schuldendienst die vorhandenen Mittel zur Rückzahlung übersteigt, entsteht in der Weltwirtschaft eine Krise der Zahlungsbilanz - der Liquidität.

Zahlungsbilanzkrise

Die natürliche Reaktion des Weltmarktes auf eine solche Zahlungsbilanzkrise ist, die Instrumente der Verschuldung wie Aktien, Hypotheken, Akzepte und sogar die Wertpapiere des Zentralbankensystems und der nationalen Regierungen abzuwerten. Es ist offenkundig, daß der Wert eines Schuldtitels, bei verminderter Fähigkeit des Schuldners, laufende Zahlungen auf Schulden zu bedienen, bei einem Anlagenkauf durch eine andere Partei ebenso herabgesetzt wird. Da diese Schuld jedoch zum großen Teil die Hauptgrundlage für die von den Zentralbankiers gehaltenen Aktiva bilden und diese Schuld schließlich als Sicherheit für den Geldumlauf und andere Zahlungsmittel verwendet wurde, droht eine solche Zahlungsbilanzkrise auch, eine Abwertung der Währungen selbst herbeizuführen. Daher sind es die Hauptwährungen, die für den größten Teil des in der Welt geschaffenen Kredits die Verantwortung übernommen haben - wie heute der Dollar und das Pfund Sterling - , die tendenziell unter dem Druck auf die Zahlungsbilanz am unmittelbarsten zu leiden haben.

Eine solche Krise bedeutet nicht, daß gewissermaßen der Buchwert der hypothekarisch belasteten Sachwerte und Wertpapiere der Kapitalisten nicht ausreichen würde, den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, ohne andere für den Erhalt des kapitalistischen Systems unerläßliche Ausgaben zu beschneiden. Bei jedem Bankrott beispielsweise kann der Buchwert von Gebäuden, Inventar, Ausrüstung und Vermögenswerten den einem Gläubiger geschuldeten Betrag bei weitem übersteigen. Der Schuldner ist nichtsdestoweniger bankrott; er kann seine Wechsel bei Fälligkeit nicht begleichen, so daß seine langfristigen Vermögenswerte versteigert werden müssen, damit er seine kurzfristigen Schulden bezahlen kann. Für Volkswirtschaften, die unter einer Zahlungsbilanzkrise leiden, gilt dasselbe. Ganz gleich was der Wert der langfristigen Aktiva sein mag, der Schuldner ist bankrott, wenn er nicht die laufenden Forderungen begleichen kann, die ihm sein Kreditgeber präsentiert.

Schuldner und Kreditgeber ein und dieselbe Person

Die Ironie in einer solchen Krise liegt darin, daß Schuldner und Gläubiger sozusagen ein und dieselbe »Person« sind, die Kapitalistenklasse. Es handelt sich nicht lediglich darum, daß Kapitalist John nicht in der Lage ist, den Kapitalisten Paul zu bezahlen. Wenn John nicht fähig ist, Paul zu bezahlen, fehlen Paul die Mittel, Peter zu bezahlen, und Peter hat umgekehrt Schwierigkeiten, John zu bezahlen, wodurch er John dazu zwingt, seine Aktiva zu versteigern, damit er Paul bezahlen kann und nimmt sich damit als Kunde für Paul und Lieferant für Peter aus dem Spiel, woraufhin Pauls Einnahmen sich in der Folge verringern, was wiederum Paul in dieselbe Lage bringt, in der einen Augenblick zuvor bereits John war. Das Problem ist nicht, daß John nicht in der Lage wäre, mit einer derzeit gängigen Gewinnspanne zu produzieren; es ist die Masse der aufgehäuften Schulden, die er irgendwie loswerden muß.

Eigentum bildet eine Fessel für die Produktion

An der Wurzel dieses Problem liegt das kapitalistische System, das heißt die Verbindung zwischen den Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln und der Produktion selber. Wenn der Kapitalist nicht mehr Kapitalist ist, was Eigentumsform und Besitzansprüche betrifft, hört er auf, als Kapitalist zu fungieren, ungeachtet seiner Fähigkeiten als Organisator der Produktion, der produktiven Fähigkeiten der Arbeiter, die er beschäftigt oder der Nachfrage nach dem Produkt seiner Firma. Aus solchen scheinbar »sachlichen« Produktionsverhältnissen werden kapitalistische Eigentumsverhältnissemit dem Ergebnis, daß die Produktion mit der Auslöschung des Eigentumstitels an jenen Produktionsmitteln stillsteht - bei Strafe des Gesetzes.

Wir haben also eine Situation vor uns, in der der Bedarf nach bestimmten Waren, die Produktivität der Arbeiter (Mehrwertrate) gar nichts mit dem Fortgang der Produktion zu tun haben. Während es so scheinen könnte, als hätte die Abschreibung von Kapitalien auf ihren wirklichen, bankrotten Wert keine Auswirkung auf den fortdauernden Betrieb der Produktionsmittel selber, hat sie diese Auswirkungen doch - und muß es auch haben - , denn dies ist die Grundlage, auf der sich unter kapitalistischen Eigentumsverhältnissen die Produktion vollzieht. Aus diesem Grund bringt eine allgemeine Versteigerung der überschuldeten Kapitalvermögen zu ihrem wirklichen Wert eine Depression hervor.

Wieso sollten wir dann zulassen, daß der Produktionsprozeß, von dem unsere materiellen Existenzmittel abhängen, periodisch stillgelegt oder heruntergefahren wird allein wegen der Anomalien der kapitalistischen Eigentumsformen? Das ist allerdings die Frage, die in besonders akuter Form immer wieder bei einer tatsächlich eintreffenden oder drohenden Depression aufgeworfen wird, wie auch bei jedem Krieg, der wegen der Bemühung angezettelt wird, dieselben Eigentumsformen zu verewigen.

An dieser Stelle ist es von Bedeutung, einige Umstände zu betrachten, wo der Schuldendienst die verfügbaren Mittel zu seiner Bedienung übersteigt.

Krebsartiges spekulatives Wachstum

Ein beträchtlicher Teil des Überhangs von Schuldendienstforderungen über die dafür zugeteilten Zahlungsmittel baut sich durch die Spekulation der Kapitalisten auf. Jeder Finanzier kennt den elementaren Grundsatz kluger Kreditaufnahme: die Verwendung des geliehenen Geldes muß einen höheren Ertrag abwerfen als für den Schuldendienst zu entrichten ist. Kein Finanzier würde auf einer anderen Grundlage borgen.

Doch zeigt sich in der Praxis, daß durch solche kluge Darlehensaufnahme der Einzelnen, ohne daß ein Finanzier für seinen Teil gegen dieses Prinzip notgedrungen verstößt, die Finanziers als Ganze dieses, ihr eigenes geheiligtes Prinzip der Sparsamkeit nicht anerkennen. Ein Grundstücksfinanzier wird beispielsweise auf der Basis einer berechtigten Erwartung eines inflationären Anstiegs der Wiederverkaufspreise von alten Grundstücken Geld aufnehmen. Dieser Kapitalfluß in Grundstücksspekulation trägt, obwohl in Übereinstimmung mit der Vorschrift kluger Kreditaufnahme für einen einzelnen Finanzier, nichts zu irgendeiner Wertsteigerung in der Produktion des kapitalistischen Systems im ganzen bei. Für den Wiederverkauf von Aktien, Renten und anderen Formen spekulativer Investition gilt dasselbe; sie erhöhen den Gesamtbetrag des Schuldendienstes, der letztlich aus Erlösen, die aus der Produktion von Gebrauchsgütern erzielt werden, aufgebracht werden muß, ohne dabei die Produktionsleistung auch nur im geringsten zu vermehren.

Solche Spekulation gehört untrennbar zum kapitalistischen System. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die Katastrophe der Antwerpener und Augsburger Bankiers im sechzehnten Jahrhundert genügend Warnung vor den Folgen sein müßte (der bankrotte Schuldner kann es nicht vermeiden, die Anerkennung seiner Schuld zu verweigern und dabei mit oder ohne die Sanktion von Kanonen vorgehen, woraufhin der Bankier selber bankrott geht.) Nichtsdestotrotz verhindert die Anarchie des Kapitalismus solche individuellen Vorsichtsmaßnahmen des Kapitalisten. Während der einzelne Finanzier, wie mit der Stimme des Wall Street Journal, die schrecklichen Aussichten beklagt, die mit sich auftürmenden Staatsschulden verbunden sind, ist er der erste in der Schlange, der die Früchte der von Kreditaufnahme gespeisten Bundesausgaben auf sein eigenes Konto verlangt.

Da Spekulationsgewinne in Aktien, Anleihen, Immobilien und Staatspapieren von einem wachsenden Kapitalzufluß, Kredit und Geldbeitreibung von Arbeitern (nämlich in Form von Mietzins auf aufgeblähte Grundstückspreise) abhängen, neigt jede neue Flut solchen spekulativen Kapitals in diese Bereiche dazu, die Wertsteigerungsrate dieser reinen Papierwerte hochzutreiben. Von dieser Tendenz wird immer mehr Kredit und Kapital in dieselben Bereiche angezogen - und von anderen nützlichen Investitionen in Produktionsmittel abgezogen. Wenn der Staat und das Zentralbanksystem damit fortfahren, zur Erhaltung dieser Spekulationsblase eine Flut von billigem Kredit bereitzustellen, muß dies dazu führen, daß Spekulationserträge die Rate des in der Industrie erzielbaren Profits hinter sich lassen, so daß die Produktion aus Mangel an Kapital eingeschränkt wird, während Massen realen Kapitals und Kredit in eine tödliche inflationäre Spirale der reinen Spekulation fließen. So viel ist zur kollektiven Weisheit und Gesundheit der Kapitalistenklasse zu sagen.

Gerade weil die Finanziers in der Tat als Kollektiv gelernt haben, zu welchen üblen Ergebnissen ihre eigenen unbeherrschbaren individuellen Impulse führen, haben sie kollektiv das Zentralbanksystem und den Staatsapparat ermutigt, sie bis zu einem gewissen Grad zu regulieren. Genau die Staatseinmischung, über die sie in ihren eigenen Presseorganen heulen, ist ein Werkzeug, das sie selbst geschaffen haben, und ihr Gekreisch und Zähneknirschen ist nichts als ein Ausdruck des Widerspruches zwischen ihrem kollektiven Interesse und ihren individuellen selbstmörderischen Antrieben.

Dieser Punkt ist von einiger Wichtigkeit sowohl für den hier beschriebenen Sachverhalt als auch für die allgemeine eingangs vertretene These. Man betrachte die in Unkenntnis befangene Auffassung der Rolle Kennedys in der Affäre der Stahlpreiserhöhung. Kennedy, so wird es falsch dargestellt, sei hier »liberal«, sogar antikapitalistisch aufgetreten. - Aber doch nicht der pflichteifrige Sohn von Joseph Kennedy!

Die Kapitalisten versammeln sich nicht auf einer Art »Konferenz über neue Alternativen«, um zu beschließen, daß die Regierung ihre Regulierung in dieser oder jener Form vornehme. Im Gegenteil errichten ihre Führer, sobald sie den Bedarf nach einer solchen Regulierung anerkannt haben, eine Institution, eine Funktion der Bürokratie - die gegen die Kartelle gerichtete Tätigkeit des Justizministeriums zum Beispiel - wie einst Teddy Roosevelts »liberale« Republikaner, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden. Es kann vorkommen, daß die besonderen Handlungen dieser Behörden, ab und an von den tatsächlichen kapitalistischen Interessen abweichen. Doch fällt dies nicht ins Gewicht, denn diese Funktionen sind, wie im Fall Kennedy und Stahlkonzerne, im allgemeinen Interesse des kapitalistischen Systems, genau wie die Mindestreserve- und andere Regulierungsvorschriften des Federal Reserve Systems, der zentralen Behörde der führenden Finanziers.

Offenkundig ist die Masse der »Werte«, mit denen man bei spekulativem Papier rechnet, kein wirkliches Kapital im Sinne von Investitionen in Produktionsmittel; die Gewinne, die in diesen Titeln erzielt werden, sind rein fiktiv, sie stellen fiktives Kapital dar. Da diese Titel, Aktien, Hypotheken etc. selber aber wieder zu Sicherheiten für neuen Kredit werden, und schließlich auch für die Schaffung neuer Geldmengen, wird das Geld selbst in seinem Wertgehalt durch die proportional anwachsende »heiße Luft« in jeder Dollarnote abgewertet.

Schmarotzertum und Verschwendung

Kredit wird auch in verschwenderische Formen von Investition geleitet, die mit den Produktions- und Verteilungsmitteln verbunden sind. Die Zahl der Büroangestellten in Regierung und Unternehmensverwaltung im Verhältnis zu produktiv Beschäftigten hat sich vergrößert; die Zahl der Verkäufer im Verhältnis zu produktiven Arbeitern steigt ebenso. Große Mengen von Kapital fließen in überflüssige Verkaufsbüros, Finanzeinrichtungen, rein überflüssige »Handelsvertretungen«, Supermärkte und so weiter, alles Tätigkeiten, die dem wirklichen Produktionsergebnis keinen Cent Wert hinzusetzen.

Die Bundesregierung schafft eine Schuld für die Rüstungsproduktion. Regierungen der Staaten, die Bundesregierung und die Gemeindeverwaltungen versetzen ihre zukünftigen Steuereinnahmen zugunsten von hauptsächlich verschwenderischen Staatsausgaben oder sie beschäftigen Kapitalisten in verschwenderischen öffentlichen Projekten. Auch dadurch wächst die Schuld weiter an, erzeugt neue Schuldendienstforderungen gegen die laufenden Einnahmen, ohne etwas zu einer Steigerung des wirklichen Reichtums beizutragen, durch den die Zahlungen letzten Endes ermöglicht werden müssen.

Wenn wir die Geschichte der Inlandswirtschaft nach dem Kriege untersuchen, besonders seit 1957-58, finden wir Stagnation der Beschäftigung von produktiven Arbeitern, nahezu Stagnation bei der Rate von Neuinvestitionen und andererseits einen Großteil des Beschäftigungszuwachses in regelrecht schmarotzerischen (Regierungsbürokratie) oder überflüssigen Elementen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Wenn wir von der tatsächlichen produktiven Beschäftigung und den tatsächlichen Investitionen den Anteil abziehen, der zu den Militärausgaben, zu überflüssigen Handelsinvestitionen, zur Zunahme von Büroraum und -personal für Finanzeinrichtungen gerechnet werden muß, und dies mit dem Anwachsen der öffentlichen und privaten Schulden vergleichen, dann sehen wir, daß das Bild der Kreditexpansion im Inland dem oben dargelegten entspricht.

Der Schuldendienst, den sich die Kapitalisten derart aufladen, muß im wesentlichen aus dem Mehrwert bezahlt werden, insbesondere aus dem Anteil des Mehrwerts, der unter den gerade gültigen Strukturbedingungen der Kapitalflüsse dem Zins entspricht. Das heißt, es gibt einen verfügbaren Anteil am gesamten Mehrwert, der zur Zahlung des Schuldendienstes verwendet werden kann, ohne das allgemeine Gleichgewicht zu stören. Wenn dieser Betrag überschritten wird, also der Schuldendienst den verfügbaren Anteil vom Mehrwert überschreitet, tritt die Krise in Erscheinung.

Ist eine Krise unvermeidlich?

Ein Zahlungsbilanzdefizit ist nicht an sich schon eine Krise. Wenn das kapitalistische System unmittelbar langfristige Aussicht darauf hat, in wirklicher Produktion zu investieren, die seine Fähigkeit, Schulden zu bedienen, erhöht, dann können die Kapitalisten die Bedingungen unter sich aushandeln (wie zum Beispiel im Internationalen Währungsfonds oder durch informelle Absprachen der Zentralbankiers untereinander), die es ihnen ermöglichen, einen gewissen Teil der kurzfristigen Defizite in langfristige Schulden zu verlagern. Was die unmittelbare Bedrohung durch eine Zahlungsbilanzkrise so verschärft, ist die Erschöpfung der realwirtschaftlichen Investitionschancen im entwickelten Sektor. Das soll nicht in Abrede stellen, daß beispielsweise in Europa noch Investitionsgelegenheiten verblieben sind. Im Gegenteil, wie sich bei der Übernahme der französischen Computerindustrie durch amerikanische Interessen oder bei der Übernahme von British Rootes durch Chrysler oder bei der Übernahme der britischen Filiale von Ford durch die Muttergesellschaft zeigt, gibt es eine Menge solcher im wesentlichen spekulativen Investitionsmöglichkeiten. Es gibt auch keinen absoluten Mangel an zusätzlichen Möglichkeiten für reale Investitionen, eine Situation, die sich noch geringfügig verbessern kann, wenn einige der Regelungen des Gemeinsamen Marktes rationalisiert werden. Das Problem ist, daß die Masse der bestehenden Investitionsmöglichkeiten weit hinter die Bedürfnisse der Kapitalisten nach solchen Investitionen zurückgefallen ist. Von diesem Ausgangspunkt her wendet sich die zehn Jahre währende Krise des Pfundes und der zehn Jahre währende Zahlungsbilanzabfluß in eine drohende Depression.

Kurzfristig erreichbare imperialistische Alternativen

Die erste Reaktion des insolventen Kapitalisten ist natürlich zu sehen, wieviel Geld es bringt, seine Großmutter beim nächsten Pfandleiher zu versetzen. Wer läßt sich anzapfen, um die Schulden des Kapitalisten zu bezahlen? Die kurzfristige Lösung der Imperialisten für ihre Krise läßt sich gerade am Beispiel Britanniens beispielhaft beobachten, wo, im Interesse der US-Imperialisten (»vermittelt« durch eine »Labour«-Regierung), die benötigten Fonds aus den Lohntüten der Arbeiter geholt werden.

Andererseits sehen wir in unserem Lande bereits, wie die Löhne hinter dem Anstieg der Inflation zurückbleiben (Lohnrichtlinien) und die Staatsschulden der Kapitalisten auf allen Ebenen beglichen werden durch erhöhte Umsatz- und Einkommensteuern in Einzelstaaten und Gemeinden, aber auch auf Bundesebene. Der Fall der Verwaltung des New Yorker Bürgermeisters Lindsay gibt dafür ein Beispiel, bei der die Finanziers in die Bresche springen mußten, um die drohende Insolvenz der Stadt abzuwenden, die sich unter ihrer Vorgängerverwaltung angebahnt hatte.

Steigende Schuldendienste, ein Ergebnis der häufigeren Ausflüge der Demokraten zu den respektableren Leihhäusern war einer der wichtigen, wachsenden Posten des Defizits der Stadt New York. Die Finanziers vermochten die bevorstehende Krise durch Erhöhung der Verbrauchssteuern und eine neu für die Stadt eingeführte Einkommensteuer aufzuschieben. Die Einführung dieser Steuer auf die Löhne verminderte somit das Steueraufkommen der Grund- und Immobilienbesitzinteressen auf die Hälfte der städtischen Einnahmen. Mit anderen Worten, es fand eine Verschiebung der Lasten von den Finanziers, welche die Schulden verursacht hatten, zuungunsten der Lohnempfänger statt. Eine Fortdauer dieses Musters steht bei neuen Einkommensteuererhöhungen in der Gemeinde und auch im Bund zu erwarten.

Doch sind solche kurzfristigen Maßnahmen nichts weiter als eben kurzfristig. Sie reichen nur aus, den Tag der Vollstreckung auf dem Anwesen des Bankiers durch den Sheriff aufzuschieben. Ohne neue Quellen bzw Mittel für Investitionen zur Erzielung von Profit ist Kapital kein Kapital mehr. An dem Punkt also, an dem neugebildetes Kapital die Chance verliert, als solches zur Erzielung von Profit investiert zu werden, bricht das Profitsystem als ganzes zusammen. Den laufenden Schuldendienst mit Summen abzuzahlen, die von den Löhnen abgezogen werden, löst gar nichts, da die akkumulierte Zahlung lediglich zum Fond des Kapitals hinzugeschlagen wird, der wiederum Investition für Profit verlangt.

Die offenkundige Lösung und zugleich institutionalisierte Antwort, ist die Erhöhung der Kriegsproduktion, das heißt Bund, Staaten und Gemeinden verschulden sich nur noch weiter, um eine bereits krebsartig wachsende Kreditexpansion zu erhalten. Freilich kann nichtsdestotrotz die unvermeidliche Reaktion des Imperialismus nicht ausbleiben, unter immer häufigeren Schlägen durch die Zahlungsbilanzkrise, mehr aus der Arbeit herauszuholen, bis hin zu dem Punkt, wo die Koalition von Finanziers und Gewerkschaftsbürokratie, auf der die Stabilität des gegenwärtigen politischen Systems beruht, bis zum Zerreißen gespannt wird, wenn nicht gar gebrochen wird. In letzter Hinsicht bringt selbst diese Konsequenz keine Lösung.

Dritte Stufe des Imperialismus

Die von den Kapitalisten angestrebte langfristige Lösung bietet sich in der Form der Unternehmensabwanderung an. Kapital, das bereits durch die Produktion von gelernten amerikanischen Arbeitern gebildet worden ist, ist abgewandert, um Betriebe auszulagern und dabei europäische Arbeitskräfte einzusetzen, die nur geringfügig weniger ausgebildet, aber weit billiger beschäftigt werden können. Dadurch wird der Durchschnittsprofit im Weltmaßstab erhalten und der Durchschnittsprofit insbesondere zuhause erhöht.

Es gibt einen Überfluß an billiger Arbeitskraft unterhalb des Äquators, aber einen Mangel an Arbeitsvermögen. Das heißt, ein ausgelagerter Betrieb braucht, wenn er wettbewerbsfähig bleiben will, Arbeitskräfte auf einer bestimmten allgemeinen Ausbildungsstufe, lese- und schreibkundige Arbeitskräfte, Arbeitskräfte, die nicht lediglich Zöglinge der modernen Erziehung sind, sondern auch in Grenzen die erzieherische Wirkung eines annähernd »westlichen« Lebensstandards kennengelernt haben.

Obendrein können Fabriken nicht einfach irgendwo in der unterentwickelten Savanne oder im Dschungel aufgestellt werden; Fabriken benötigen Stromversorgung, effiziente Transport- und Verkehrsbedingungen, Kommunikationssysteme, die Nähe zu Lieferanten und Verbrauchern und einiges mehr. Die Bevölkerung muß überdies aufnahmebereit sein für »westliche« Vorgehensweisen, kapitalistische Vorstellungen von Eigentum, Familie, Ordnung und dergleichen. Sie muß eingliederbar sein in die moderne Form der kapitalistischen Kultur, wie sie sich darstellt in den Beziehungen zwischen den Arbeitern in der Produktion und ihren Vorarbeitern. Dies bedeutet, daß neben den eher selbstverständlichen objektiven Voraussetzungen für Investitionen auch subjektive Vorbedingungen und Rechtsvorstellungen über die menschlichen Beziehungen erfüllt sein müssen. All diese Bedingungen zusammen werden von den Brain-Trusts der Staatsbürokratie freihändig »Infrastruktur« genannt.

In dieser Richtung sehen Imperialisten für sich die langfristige Lösung der gegenwärtig drohenden Wirtschaftskrise. Da sie sich durch die Gänge der Bürokratie hindurch lavieren und nicht als Wissenschaftler fortbewegen, entdecken sie solche Lösungen nicht durch Fortführung, Diskussion oder Beweis einer allgemeinen Theorie, sondern pragmatisch, anhand der Begriffe und Vorstellungen, die in den von der Vergangenheit überkommenen Institutionen verkörpert sind. Diese Lösung betrachten sie nicht in einem wissenschaftlichen Rahmen, sondern am Beispiel des »Marshallplans«, der »Fomento«-Entwicklung in Puerto Rico, von »Lebensmittel für den Frieden« und der Fulbright-Stiftung, im Hinblick auf den Internationalen Währungsfonds, und vermittelt durch auswärtige Institutionen wie die lateinamerikanischen Militärjuntas, der Nehru-Bürokratie oder dem Ky-Regime, welche die für sie bestehenden institutionalisierten Beziehungen mit dem unterentwickelten Sektor sind. Sie nähern sich einer Neuformierung hauptsächlich dadurch, daß sie den alten Instrumenten mit Stückwerk ein neues Aussehen und neue Funktionen verpassen, wobei sie durch solche Zutaten und Einkleidungen ein Problem zu »lösen« versuchen, das ihnen durch eine besondere Erfahrung dringlich geworden ist.

Eine solche neue Politik wurde der allgemeinen Öffentlichkeit, wie bereits erwähnt, in der Rede zur Lage der Union 1960 erstmals amtlich vorgestellt vom ehemaligen Präsidenten Eisenhower. Um die südliche Halbkugel für Direktinvestitionen zu öffnen, müsse ein neuer »Marshallplan« in Gang gesetzt werden, wobei diesmal die Lasten im entsprechenden Verhältnis auch von Westeuropa und Japan zu teilen wären. Umfangreiche öffentliche Hilfe und Darlehen würden die Entwicklung der Infrastruktur anstoßen, woraufhin privates Kapital, dem die wirtschaftliche und politische Klimaregelung zu seiner Bequemlichkeit hergerichtet sein würde, eintreten könnte. Freilich ließ Eisenhower nicht unerwähnt, daß die Kolonialvölker, wenn sie solche Freigebigkeit zu ernten wünschen, lernen müßten, sich selbst Disziplin aufzuerlegen, ein Merkpunkt, der später mit der Ermordung von Patrice Lumumba klargestellt wurde.

In dem Augenblick, da Eisenhower seine Erklärung zur internationalen Politik abgab, verhandelte gerade Douglas Dillon, damals ein mittlerer Bundesbeamter im Finanzministerium, mit dem späten großen »Sozialisten« Nehru über einen Vertrag auf eben solchen Grundlagen. Unter den Bedingungen dieses Vertrages geriet Indien in dasselbe Verhältnis zu den USA, Westeuropa und Japan wie Puerto Rico zu den Vereinigten Staaten. Seither stiegen die Investitionen aus Westdeutschland und Japan in Indien an, während die britischen Investitionen in Indien stagnierten, ein Verlauf, der durch die gegenwärtige Hungersnot unterbrochen wurde.

Kennedys im Keim erstickte »Allianz für den Fortschritt« war ein elend unzulängliches, zusammengeschustertes »Fomento«-Schema, aller Wahrscheinlichkeit nach für die sich bietende Gelegenheit hastig zusammengeschrieben von den Entwurfsskizzen der von Eisenhower übriggebliebenen Staatsbürokratie. Gleichwohl war sie im Einklang mit einem Vorhaben, wie es Kennedy in einer Ansprache an den Senat 1958 dargestellt hatte. Kennedys halbgares Programm einer »Landreform« in Vietnam, fortgesetzte Rezepte gleicher Art, die zur Zeit im Entstehen sind, Papa Bird Johnsons gelegentliches Murmeln von einer »gesteuerten sozialen Revolution« in Lateinamerika sind alles Aspekte eines bürokratisch zusammengepfuschten Vorstoßes zur Einführung einer Politik, wie sie von Eisenhower 1960 ausgesprochen worden ist.

Dritte Stufe

Wenn sie in Gang käme, würde diese Politik eine dritte Stufe des Imperialismus darstellen. Die erste Stufe stellt sich dar als die koloniale Vergewaltigung Indiens durch Britannien, durch Britanniens militärischen Versuch, dem chinesischen Volk das Opiumrauchen anzugewöhnen sowie andere koloniale Schelmenstreiche des freibeuterischen Handelskapitals. Die zweite Stufe wird von Lenin und Hilferding gekennzeichnet als die Investition von Monopolkapital in die rohstoffgewinnenden Industrien und die Vernutzung von Massen nahezu sklavenähnlicher Arbeitskräfte in den Kolonien zur Arbeit in den Plantagen und Bergwerken. Unter dieser zweiten Stufe des Imperialismus, unter deren Bedingungen wir bis zum heutigen Tag leben, operierten Auswärtige wie der von niemandem betrauerte Leopold von Belgien oder die Interessen unseres eigenen Rockefeller im Ausland in einer Weise, die nicht im geringsten in Rechnung stellte, wieviele Einheimische hingeschlachtet oder bei der Arbeit zu Tode geschunden wurden, solange genügend »Sklavenarbeitskräfte« übrigblieben, um die imperialistischen Werke zu füllen. Diese Lage dauert an, und in ihr ergießt sich unsere Presse in rituellen Tränen von Druckerschwärze über das große Elend in Übersee, ohne je sich die Mühe zu machen, eine Änderung der amerikanischen Politik vorzuschlagen, welche dieses Leid verursacht. In der neuen Stufe des Imperialismus - wenn sie in Gang gesetzt würde - würde sich das Los der Kolonialvölker in einer Hinsicht zum besseren wenden. Es ergibt sich, daß hungernde Analphabeten für die Industriellen von heute kein Arbeitsvermögen darstellen. Das heißt, daß die US-Imperialisten die Bevölkerungen in den Kolonien als produktive Arbeitskräfte ansehen werden, als Arbeiter, deren menschliche Tugenden in direktem Verhältnis zu ihren Eigenschaften der Preiswürdigkeit und Unterwürfigkeit anerkannt werden. Die südliche Halbkugel soll das glückliche Jagdrevier der ausgelagerten Betriebe in dieser Periode werden, so wie es Puerto Rico zuvor war.

Könnte es gelingen?

Eine Anzahl sozialistischer Kommentaren leugnet, im wesentlichen aufgrund der Erfahrung mit der »Allianz für den Fortschritt«, daß eine solche Politik der »dritten Stufe des Imperialismus« funktionieren könnte, selbst wenn die kolonialen Völker sie zuließen. Ganz im Gegenteil, wenn sie nicht unterbunden wird, könnte sie sehr wohl für eine ganze Periode zur Wirkung kommen, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Imperialisten selber dazu bereit sind, die Risiken ebenso auf sich zu nehmen wie auch die einschneidenden und revolutionären Maßnahmen, die erforderlich sind, um ein solches Programm in die Wege zu leiten. Zwar muß man den sozialistischen Zweiflern zugestehen, daß »unter gleichbleibenden Bedingungen« diese Anfangsschwierigkeiten gewöhnlich ausreichen würden, die Imperialisten von einem solch waghalsigen Unterfangen abzubringen. Der Sachverhalt steht nun aber so, daß wie am Rande eines Weltkrieges »alle anderen Bedingungen« keineswegs gleichbleiben. Der Imperialismus muß auf jedwede Verzweiflungsmaßnahme zurückgreifen, die diese Politik verlangt; er verfügt über keine andere langfristige Basis mehr, auf die er seinen Fortbestand stützen könnte.

Das erste Hindernis einer industriellen Entwicklung in der südlichen Hemisphäre ist das Plantagensystem. Jeder Sektor der Weltwirtschaft, der eine Industriearbeiterklasse unterhalten will, muß eine hinreichend preiswerte Ernährungsbasis zur Verfügung stellen. »Preiswerte« Ernährung ist eine relative Angelegenheit; es muß ein verhältnismäßig reichhaltiges Angebot zu Preisen geben, die nur einen Teil der Entlohnung der Arbeiter zum Unterhalt ihrer Familien ausmachen. Die »Nahrungsmittelüberschüsse« der USA reichen zu diesem Zweck nicht aus; sie sind lediglich nützliche Ergänzungen oder Teil einer Starthilfe, um die Industrialisierung am Ort aus eigener Kraft zum Laufen zu bringen. Um die Lebensmittelpreise an Ort und Stelle in ein angemessenes Verhältnis zum Lohnniveau der einheimischen Arbeiter zu bringen, muß dieser Bedarf hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Überschüssen aus Bereichen mit verhältnismäßig geringem Lohn gedeckt werden. Und genau gegenüber dieser reichhaltigen Nahrungsmittelproduktion ist das Plantagensystem ein Hindernis.

Um Plantagenbesitzer mit billiger Arbeitskraft zu versorgen, ist eine Schicht landloser, proletarisierter Kleinbauern geschaffen worden, denen jede Eignung oder Gelegenheit zu anderer Beschäftigung fehlt - wie wir es sogar bei den Wanderarbeitern in der Landwirtschaft in den USA finden. Der Großgrundbesitzer ist daher ein heftiger Gegner eines jeden »Homesteadgesetzes« (Ansiedlungsförderung); denn dadurch würde der Preis der landwirtschaftlichen Arbeitskraft soweit angehoben, daß den Bauern die Gelegenheit gegeben wäre, Brachland zu übernehmen und es in eine moderne Farmlandwirtschaft zu verwandeln. Auf der südlichen Halbkugel wird die Proletarisierung der Bauernmassen automatisch durch einen Entzug des gesellschaftlichen Kapitals der inneren Ökonomie erzeugt, der erforderlich wäre, um die Landwirtschaft zu entwickeln. Dieses Ergebnis primitiver Akkumulation wird verstärkt durch rechtliche Maßnahmen und Anmaßungen der Grundherren, die die Bauern daran hindern, in Freiheit fruchtbare Landstriche in Besitz zu nehmen und zu entwickeln.

Bevor eine stabile Industrialisierung ihren Anfang nehmen kann, muß dieses System des Großgrundbesitzes weitgehend zerstört werden. Das bedeutet nicht die allgemeine Aufteilung von Bananen- und Kaffeländereien zugunsten von Kartoffel- und Getreideanbau. Es bedeutet in der Hauptsache ein Zuteilungsprogramm von brachliegenden, bebaubaren Parzellen an Bauern in Verbindung mit technologischer und finanzieller Hilfe durch den Staat. Diese würde den Preis für Plantagenarbeit hochtreiben und die Plantagenbesitzer dazu zwingen, von arbeitsintensiven zu mechanisierten Methoden der Produktion überzuwechseln. Mitunter wird das gegenwärtige System recht unbeholfen »feudal« genannt. Tatsächlich aber ist das Latifundiensystem - ein System landwirtschaftlicher Großproduktion für den Geldmarkt - ein Produkt des Kapitalismus und hat nirgendwo in der Geschichte bestanden außer während der Entwicklung des Handelskapitalismus (z. B. im Hellenismus allgemein, im alten Rom im besonderen, im Sklavensystem des Südens). Somit ist zum Beispiel die Frage einer sozialen Revolution in Lateinamerika nicht die, ob Kapitalisten ihre Rechnung mit den feudalen Überresten begleichen, sondern die, ob der Kapitalismus sich selbst reformiert.

Die Schwierigkeit der Imperialisten in Lateinamerika ist an dieser Stelle, daß die Plantagenbesitzerinteressen dort keine isolierte Gruppe innerhalb des kapitalistischen Systems sind. Plantagen sind in jenem Teil der Welt nichts als die landwirtschaftlichen Extremitäten des Zentralbanksystems der fortgeschrittenen Welt. Eine Landreform zu institutionalisieren, die Latifundienbesitzer zur Mechanisierung zu zwingen usw., das bedeutet, für die Stammländer des Imperialismus eine Quelle des Profits auszulöschen.

Darüber hinaus bildet die Kompradorenklasse in diesen Ländern, die in den Familien und im System der Latifundien verwurzelt ist, die »loyale« ortsansäßige herrschende Klasse, die Offizierskader der den Imperialisten ergebenen Polizeien und Armeen. Will man gegen die gegenwärtig vorherrschenden Großgrundbesitzinteressen in diesen Ländern vorgehen, heißt das auch, wichtige imperialistische Profitquellen und Interessen in diesem Sektor anzugreifen und obendrein jene Kaste der Herren und Oberste sich zu entfremden und arm zu machen, auf die sich die Coca-Colaisierung derzeit stützt. Dennoch wird man diese Konsequenzen letztlich nicht mehr scheuen und eine Lösung finden, wenn sich die Notlage genügend verzweifelt darstellt - wie sie es tut.

In Wirklichkeit werden die Großgrundbesitzer auch lediglich »psychologische« Härten erleiden. Im wesentlichen ist das Verfahren dasselbe wie das bei den Slumbeseitigungsprogrammen in nordamerikanischen Städten angewandte Vorgehen. Von den Lohnempfängern wird eine Steuer erhoben; diese Mittel werden dazu benutzt, die Slumlords oder Großgrundbesitzer zum Verkehrswert zu entschädigen. »Hier ist Ihr Geld, nehmen Sie es und investieren Sie in industrielle Entwicklung.« Der objektive Übergang vom Leibeigenenbesitzer zum Finanzier, wie das vom Gangster zum erfolgreichen Geschäftsmann, erfordert nur genügend Barmittel.

Eine Abwandlung - der Fall Indien

Eine größere Stütze der Zukunft des Imperialismus ist Indien, das eine geringfügig andere Herangehensweise erfordert als die für Lateinamerika gültige. Die verdorrte Erde dieses unglücklichen Landes erlaubt Lösungen der Landreform nicht in der Weise wie in weiten Teilen Lateinamerikas. Jahrzehnte der Landentwicklung und der Arbeit an der Technologie werden vergehen müssen, bevor dieser Teil des Subkontinents sich selbst ernähren und überdies einen Überschuß erzeugen kann, um ein wachsendes »preiswertes« Proletariat zu unterhalten.

Das alte britische Raj erhielt die Versorgung des Lebensunterhaltes für seine industriellen Investitionen durch Importe von den Reisfeldern Burmas. Solche Hilfsquellen reichen nicht aus für den Investitionsbedarf des amerikanischen, japanischen und westeuropäischen Kapitals insgesamt. Nur die südostasiatische Reisschüssel als ganze kann solche notwendigen Nahrungsmittelüberschüsse liefern - und dabei ist die Rede von solchen Regionen wie dem Mekong-Delta. (Offenkundig gibt es weder aktuell noch als Vorhaben Investitionen in Vietnam selber, was den derzeit andauernden kostspieligen Krieg erklären könnte; wenn man dem aber die Bedeutung der Reisschüssel als ganze gegen das verzweifelte Interesse des Imperialismus an Indien in Gegenwart und Zukunft gegenüberhält, dann erschiene der Krieg in Vietnam unter dem richtigen Blickwinkel der Interessen des US-Imperialismus.)

Geplante Investitionstätigkeit des Imperialismus im unterentwickelten Sektor unterteilt sich in öffentliche und private Investitionen. Massive öffentliche Hilfe in der Form von Regierungsbewilligungen, Darlehen der Weltbank und so weiter beabsichtigen den Aufbau dessen, was die heutigen Bürokraten »Infrastruktur« der Wirtschaft nennen. Damit sollen Ausbildung, Fernstraßen, Eisenbahnen, Stromversorgung und so fort gewährleistet werden. Zwar handelt es sich hier um Elemente, die nicht unmittelbar gewinnbringende Investitionen bedeuten, aber sie sind unerläßlich für private Investitionen, insofern sie einerseits Arbeitskraft mit entsprechender Befähigung hervorbringen und ansonsten Einrichtungen schaffen, von denen ein moderner Fabrikbetrieb abhängt. Daraufhin folgen dann die privaten Investitionen nach. Also ein »Marshallplan« in größerem Maßstab, angepaßt an die enormen Schwierigkeiten, die sich in diesen Bereichen der Welt vorfinden lassen.

Die Rolle des Militärs sollte in diesem Prozeß der Herausbildung einer kapitalistischen Infrastruktur nicht übersehen werden. Marx hat den Ausdruck der konzentrierten Produktionsverhältnisse in der kapitalistischen Armee bemerkt; Engels hat einige der tatsächlichen Verbindungen untersucht, durch die dieses Ergebnis hervorgebracht wird. Die Organisation einer örtlichen Armee nach amerikanischem Vorbild in großem Maßstab ist ein sehr direkter Weg, Massen von Kolonialvölkern zu erziehen und sie zu den Verhaltensweisen und der Technologie des kapitalistischen Alltags zu drillen. Die Armee als wirtschaftliche Körperschaft aus eigenem Recht stellt neben einem massiven Prostitutionsbetrieb auch einen Wirt für Lagerzulieferer bereit, die sehr bald die Grundzüge des modernen Kapitalismus lernen, nämlich Betrug, Preistreiberei, Mogelverpackung. Im Gefolge der Armee tauchen wohlhabende Zuhälter, Gangster, Schwarzmarkthändler usw. auf, die ein geringes Kapital und gewisse Kenntnisse vom Geschäft haben, neben entlassenen Soldaten, die darin gedrillt sind, die Befehle eines Meisters zu befolgen und mechanische Werkzeuge zu bedienen und instandzuhalten. (Vgl. Vietnam heute!)

Während sich die Kolonialvölker bereits in einem Kapitaldefizit befinden, muß das öffentliche und private Anlagekapital aus dem Produkt der Arbeiter in den fortgeschrittenen Ländern zufließen. Um den Kurs in Indien, Teilen von Afrika und Lateinamerika herumzureißen, von Hilfsquellen primitiver Akkumulation zu Gebieten industrieller Entwicklung, muß die öffentliche Hilfe auf eine mit Kriegszeiten vergleichbare Größenordnung angehoben werden. Werden die Profite der Finanziers zu diesem Zweck nicht eingeschränkt, so müssen Profiterhöhungen wie auch direkte Einkommensteuererhöhungen den Großteil dieser Mittelbeschaffung im Kriegsmaßstab bereitstellen.

Das allgemeine Schema solcher Mittelbeschaffung sieht man im Rezept der »Lohnleitlinien«. Das heißt, der Lohnanstieg wird niedriger gehalten als die durch den Produktivitätsanstieg gewonnenen Erträge; Lohnerhöhungen bleiben unterhalb der Teuerungsrate und des Produktivitätszuwachses. Auf diese Weise bleibt der materielle Lebensstandard der Arbeiter in den USA und Europa gleich, während der Anteil der Arbeitenden am Arbeitsertrag sinkt.

Was die Auswirkung dieses Schemas auf die Wirtschaft der USA anbetrifft, sollte sich niemand einbilden, daß die Auslandshilfe der USA bei den hiesigen Finanziers irgendetwas mit Wohltätigkeit zu tun haben könnte. Die meisten Dollars, die als US-Auslandshilfe vergeben werden, verlassen nie eine Bank in New York; diese Guthaben auf Banken in den USA werden dazu verwendet, die in das Empfängerland exportierten Kapitalgüter zu kaufen - der Finanzier in den USA wird unmittelbar für seine »Freigebigkeit« bezahlt, während die Wirtschaft im Ausland ihren Schuldenbetrag gegenüber den US-Bankiers erhöht hat! Wenn ein geringer Betrag dieses Geldes tatsächlich in die einheimische Wirtschaft dieses kolonialen Landes tröpfelt, auch gut; es wird auch nur dafür verwendet, an Ort und Stelle Geld hineinzupumpen, um den Direktinvestitionen aus den USA behilflich zu sein.

Neokolonialismus

Die »dritte Stufe des Imperialismus« sollte nicht mit »Neokolonialismus« verwechselt werden, eine Bezeichnung, in der sich nur die Verwirrung niederschlägt, mit der viele Beobachter die Übernahme der kolonialen Welt von den alten Kolonialmächten durch die USA betrachten. Aus ökonomischer Sicht gibt es nichts Neues an dem, was diese Beobachter »Neokolonialismus« nennen; diese Formen sind lediglich ein Teil der alten »zweiten Stufe des Imperialismus«. Neokolonialismus weist hauptsächlich darauf hin, daß der US-Imperialismus letztlich damit Erfolg gehabt hat, seine 1899 mit der »China-Öffnung« begonnene Politik auf die gesamte Kolonialwelt auszudehnen. Man sollte sich daran erinnern, daß diese Politik der »offenen Tür« nichts weiter als nahezu eine Kriegserklärung gegen die alten Kolonalmächte war, mit der ein wichtigtuerischer, emporgekommener US-Imperialismus den Fehdehandschuh hinwarf: »Reißt eure Zollschranken um diese Kolonien nieder, die wir Amerikaner zu unserem Eigentum machen wollen.« Daß den ehemaligen Kolonien von den alten Kolonialmächten - oft auf ausdrückliches Drängen des US-Imperialismus hin - die Unabhängigkeit gewährt worden ist, zeigt lediglich, daß die USA schließlich diese alten Kolonialmächte dazu zwingen konnten klein beizugeben, um die Kolonialwelt der ungehinderten Ausbeutung durch den Dollar zu überlassen.

Im Falle von Belgisch-Kongo waren es zum Beispiel die USA, die auf ein zögerndes Belgien Druck ausgeübt haben, dem Kongo die Unabhängigkeit zu geben, dieselben USA, die unmittelbar darauf den belgischen Einfall in diese ehemalige Kolonie durch und durch unterstützt haben. Das Weiße Haus hat keine Einwände dagegen, daß belgische Fallschirmjäger Frauen und Kinder in den Kolonien in Eichmannschem Maßstab niederschießen, allerdings aber gegen belgische Zollbeamte, die Abgesandte des US-Kapitals ärgern. Dennoch stellt der »Neokolonialismus«, der sich zum Ausgang der zweiten Stufe des Imperialismus breitmacht, den Punkt des Aufstiegs dar, von dem die dritte Stufe ihren Ausgang nimmt. Der besondere Geruch der CIA zeigt sich in den erst vor kurzem errichteten konterrevolutionären Regimen, die nun in Algerien, Kongo, Ghana und Indonesien im Sattel sitzen. Die USA und »verbündete« Agenten suchen aus den Nationalisten diejenigen heraus, die für den kapitalistischen Lebensstil das angemessene Verständnis zeigen, so wie sich ein Slumlord einen ehrgeizigen Burschen aussucht, der sich des Problems annimmt, direkt mit den Mietern zu verfahren. Ganz so wie der Slumlord das Slumgebäude an den ehrgeizigen Burschen »verkauft« (selbstredend mit einer wucherischen Zweithypothek) und ihm dabei versichert, daß er jetzt ein »Finanzier« ist, so malt der US-Agent oder einer von seiner Sorte dem hochkommenden »Jungen« die Wonnen des Kapitalistendaseins aus: »Selbstverständlich wird das eure eigene einheimische Industrie sein; wir werden uns mit keinesfalls mehr als der ersten und zweiten Hypothek schon zufriedengeben, zuzüglich mit einem fairen Anteil an den Profiten, die wie durch ein Wunder bei unseren Finanzierungsbedingungen durchrutschen könnten.«

Von der Ökonomie zur Politik

Die Hauptschwierigkeiten, die dem Unternehmen »Dritte Stufe« entgegenstehen, sind nicht ökonomische, sondern politische. Die »gelenkte soziale Revolution« bringt eine radikale Umwandlung der Institutionen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den unterentwickelten Teilen der Weltwirtschaft mit sich. Jeglicher Wandel in solchem Umfang ist für die herrschende Klasse gewagt, weil er das Gewebe der angestammten Ideologien und Institutionen einreißt, auf der die gesellschaftliche und politische Stabilität der vorangegangenen Periode beruhte. Darüber hinaus sind die Imperialisten zur Durchführung solcher Maßnahmen zu einem Zeitpunkt gezwungen, an dem die Autorität der vorherrschenden Ideologien und Institutionen bereits aufgrund der wirtschaftlichen Verwerfungen in Frage gestellt werden, bei einer Intensivierung von Arbeitskämpfen, durch unpopuläre Kriege und durch ein beträchtlich gesunkenes Ansehen ihrer Regimes. Während die Illusionen der beiden Jahrzehnte im fortgeschrittenen Sektor bereits fadenscheinig werden und der überausgebeutete Sektor bereits am Überkochen ist, findet sich der Imperialist in der Lage eines Hausbewohners, der aus seinem brennenden Haus durch einen Teich mit siedend heißem Öl flüchten muß.

In kurzfristigen Auswirkungen hat sich dies auf seiten der kapitalistischen Fraktionen durch Spaltungen in der Staatsbürokratie und in den politischen Apparaten bereits angekündigt. Diese Kräfte stellen durchaus keinen bewußten Monolith dar, aus Gründen, die wir bereits dargelegt haben. Die Polarisierung der Kapitalisten und ihrer Bürokratie in einen »liberale« und eine rechte Fraktion kann die Grundlage für heftige Spaltungen in den imperialistischen Reihen werden. Das gegenwärtige imperialistische Regime in den USA ist gegründet auf eine bewußte Koalition zwischen Finanziers, Politikern und einer verräterischen Gewerkschaftsbürokratie. Imperialistische Interessen treiben nun zum Bruch des Bündnisses mit der Gewerkschaftsbürokratie. Dies aber bedeutet einen Bruch, der ohne drastische Änderungen der bestehenden politischen Institutionen nicht zum Erfolg führen kann - das heißt von Gesetzen und Regierungshandeln. Bei jedem wichtigen Wendepunkt auf diesem Weg werden die bewußtesten Führungsschichten vom Kretinismus ihrer gesellschaftlichen Basis gehemmt und beschwören damit die Gefahr von Unentschiedenheit herauf zu einem Zeitpunkt, an dem eine klare Durchführung von Vorhaben dringend geboten wäre.

In der Staatsbürokratie - genauso wie in der Unternehmensbürokratie - kann eine dramatische Änderung der Politik nur unter Krisenbedingungen erreicht werden. Die Führung, die selbst »ihrer Zeit voraus« ist, wird erleben, daß ihre Bemühungen von den Bürokraten in Reih und Glied sabotiert werden. Diese Erscheinung des bürokratischen Kretinismus spielt auf kurze Sicht in der Gestaltung der Geschichte eine entscheidende Rolle und bewirkt, daß die Führungskreise dazu neigen, neue, angebrachte Zielsetzungen bis zum letzten Stadium der Krise zu verschieben, in dem solche Neuerungen beinahe zu spät eingeführt werden. Eben diese Bedenken können die Handlungsfähigkeit der Führungskreise für eine kurze Zeitspanne in einen Zustand der Unentschlossenheit und des Schwankens versetzen, in dem sie ihre Fähigkeit verlieren, wirksam zu herrschen. Daraus folgt fast wie ein Gesetz, daß eine jede solche allgemeine Wirtschaftskrise an einem bestimmten Punkt eine Unterbrechung im raumzeitlichen Zusammenhang der kapitalistischen Vorherrschaft erzeugt, in der eine wirkungsvolle sozialistische Führung und Bewegung erfolgreich eingreifen kann, um den Lauf der Geschichte zu verändern. Darin besteht das größte Risiko für die Imperialisten. Große sozialistische oder kommunistische Parteien bieten an sich noch keine Gewähr für eine solche wirkungsvolle Führung, wie uns die Geschichte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges im Falle Deutschlands (verschiedene Male: 1918, 1923, 1933), Frankreichs (1945), Italiens (1945) und Britanniens (1945) bewiesen hat.

Der Punkt, auf den es ankommt, ist die Fähigkeit der sozialistischen Führung und die Qualität des Programms. Die Frage »Was wird das Ergebnis der Bedrohung durch eine allgemeine Wirtschaftskrise sein?« kann daher so beantwortet werden: Entweder wir zum Beispiel in den USA werden eine Führung der revolutionären Intelligenz bilden und Programme zur sozialistischen Neuindustrialisierung entwickeln, die die Mehrheit der Lohnempfänger für sich gewinnen, oder dem US-Imperialismus oder einem Imperialismus-Faschismus gelingt es, sein Überleben durch eine dritte Stufe des Imperialismus für eine weitere historische Periode sicherzustellen.

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