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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Eine Weltordnung jenseits des Globalismus

Jenseits des Kapitalismus

Richard Löwenthal: Nach 30 Jahren - Einführung zur Neuauflage 1977

 Die vorliegende Schrift wurde 1946 in London geschrieben und Anfang 1947 in der damaligen amerikanischen Besatzungszone Deutschlands veröffentlicht. Ich zeichnete sie mit dem Pseudonym Paul Sering, unter dem ich während des Dritten Reiches als Vertreter der deutschen sozialistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« publiziert hatte - zuerst in der Tschechoslowakei, später in Frankreich und England -, und ich widmete sie »Meinen überlebenden Freunden in Deutschland«. Sie sollte den so lange von der internationalen Information und Diskussion abgeschnittenen demokratischen Sozialisten meines Heimatlandes zur Neuorientierung in einer veränderten Welt dienen; sie sollte insbesondere angesichts der furchtbaren Erfahrung des totalitären Nationalsozialismus in Deutschland und angesichts der akuten Bedrohung durch den totalitären Kommunismus Stalins von Rußland her sowohl diese Phänomene verständlich machen, wie die Grundzüge einer demokratisch-sozialistischen Alternative für die Lösung der von der kapitalistischen Entwicklung geschaffenen Probleme darstellen. Die Dringlichkeit der Aufgabe, in einer so verwirrenden und bedrohlichen Situation einen Beitrag zur Neuorientierung zu leisten, erlaubte mir nicht, neben meiner damaligen Berufstätigkeit als englischer Journalist ein Buch mit wissenschaftlichem Apparat zu schreiben: Die knappste Entwicklung meiner Gedanken zu dem umfassenden Thema mußte genügen, unterstützt nur von einem Anhang mit kommentierenden Hinweisen auf die wichtigste einschlägige Literatur des Auslands.

  Der Zweck eines Beitrags zur Neuorientierung wurde damals in erheblichem Grade erreicht. Nachfrage und Widerhall waren in jenen Jahren des allgemeinen Ideenhungers außerordentlich, die Auflage zunächst nur durch den Papiermangel begrenzt. Natürlich wurde das Buch nicht zur »offiziellen Theorie«der deutschen Sozialdemokratie, weil es so etwas in einer demokratischen Partei unserer Tage nicht geben kann. Aber es wurde nicht nur von den älteren und jüngeren Aktivisten der wiedererstandenen demokratischen Arbeiterbewegung, von Kurt Schumacher bis Willy Brandt, mit viel Zustimmung gelesen, sondern gab vor allem jenen eine Grundlage, die - beginnend mit der Generation Helmut Schmidts - damals neu zu dieser Bewegung stießen. Es wurde auch in der damaligen sowjetischen Besatzungszone»illegal« in Umlauf gesetzt und hat dort für den Widerstand gegen die Zwangsfusion von Sozialdemokraten und Kommunisten Argumente geliefert: Mein einstiger Studienfreund Wolf Abendroth, der damals in Halle lehrte, gab es heimlich seinen Studenten, und Wolfgang Leonhard und Carola Stern lasen es auf der Parteihochschule der SED! Noch in den Anfängen der Studentenrevolte der 60er Jahre wurde das Buch von Rudi Dutschke wiederentdeckt und - zum Teil gegen mich - zitiert...

 Die beträchtliche Wirkung der Schrift zu ihrer Zeit ist auch der Grund, warum der Dietz-Verlag mir eine Neuauflage nach 30 Jahren vorgeschlagen hat: Als ein Dokument zur Geschichte der geistigen und politischen Entwicklung der deutschen demokratisch-sozialistischen Bewegung. Als Dokument wird sie hier unverändert abgedruckt. Aber in den drei Jahrzehnten, seit sie geschrieben wurde, hat die gesellschaftliche Entwicklung die Menschheit, und mit ihr diese Bewegung, vor völlig neue Probleme gestellt, und neue Erfahrungen haben auch die in ihr behandelten Probleme zum Teil in neuem Licht erscheinen lassen.

Die neuen Probleme

 So haben die demokratisch regierten Industrieländer in Nordamerika, Westeuropa und Japan ein Vierteljahrhundert beispiellosen stetigen Wirtschaftswachstums bei hohem Beschäftigungsniveau und intensiver währungs- und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit, von dem internationalen Währungsabkommen von Bretton Woods über den Marshallplan bis hin zur Entwicklung der europäischen Gemeinschaft, ohne entscheidende Eingriffe in das kapitalistische Eigentum erlebt. Doch die Entwicklung des letzten Jahrzehnts hat in den gleichen Ländern eine beschleunigte Weltinflation, gipfelnd im Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und einer Kette von Auf- und Abwertungen, gebracht; und deren desorganisierende Wirkung, verschärft durch die von Ölboykott und Ölpreiserhöhung ausgelöste Energiekrise, hat zu der ernstesten weltwirtschaftlichen Rezession seit 1932 geführt.

 Die Sowjetunion hat in den gleichen Jahrzehnten nicht nur ihre neu aufgebaute osteuropäische Machtsphäre trotz schwerer Krisen konsolidieren können, sondern ist zur nuklearen Weltmacht herangewachsen. Die politisch-ideologische Auseinandersetzung um die Grenzen ihrer Machtausdehnung hat schnell zu einer weltpolitischen Polarisierung um den Gegensatz zwischen totalitären Einparteistaaten und demokratisch regierten Industriestaaten geführt. Zugleich hat die sowjetische Führung nicht vermocht, aus eigenständigen Revolutionen hervorgegangene kommunistische Regime, wie Jugoslawien und später die zweite kommunistische Großmacht China, kraft ideologischer Autorität unter ihrer Kontrolle zu halten, und die Konflikte zwischen ihnen haben eine pluralistische Aufsplitterung der einst von Moskau gelenkten kommunistischen Weltbewegung eingeleitet. Seit Stalins Tod hat die Sowjetunion auch einen Wandel ihres inneren Systems durchgemacht - zurück vom persönlichen Despotismus zum institutionellen Einparteiregime, aber auch fort von der Dynamik gewaltsamer Revolutionen von oben zu einem Regime der konservativen Erstarrung. Die Enttäuschung an den Früchten der »Weltrevolution« und das Erlöschen der inneren Dynamik des Sowjetregimes haben auf der Grundlage der seit langem bestehenden Einsicht beider Nuklearmächte in die Gemeinsamkeit ihres Interesses am Überleben, also an der Begrenzung der Formen ihres Konflikts, seit Ende der sechziger Jahre zur »Entspannung«, d. h. zu zunehmend ernsten Verhandlungen über eine Lösung von Teilkonflikten und eine Begrenzung der Rüstungen geführt, ohne jedoch die grundsätzliche Teilung der Welt durch den Systemkonflikt aufzuheben.

 Die vergangenen Jahrzehnte haben auch die fast völlige Auflösung der alten Kolonialreiche und die Entstehung einer »Dritten Welt« von neuen Staaten gebracht, die das Ziel einer beschleunigten wirtschaftlichen Modernisierung überwiegend in Unabhängigkeit von beiden weltpolitischen Blöcken und unter Ausnutzung ihres Wettbewerbs zur Gewinnung von Entwicklungshilfe verfolgen. Die Ergebnisse haben sich jedoch, trotz gewachsener öffentlicher und privater Investitionen des Westens und geringerer, aber ebenfalls erheblicher des Sowjetblocks, als ganz ungenügend erwiesen, um in vielen dieser Länder zunehmendes Massenelend zu vermeiden. Neben der Zunahme von Massenarbeitslosigkeit und Hunger in Ländern, deren Industrialisierung und Agrarproduktion mit der rapiden Bevölkerungszunahme nicht schritthalten, spielt dabei die lange ungünstige Entwicklung der Rohstoffpreise relativ zu den Industriepreisen eine wesentliche Rolle: Die Forderung der Entwicklungsländer nach einer politischen Preisregelung ist in den letzten Jahren zu einem Kernpunkt ihrer Auseinandersetzung mit den »reichen«Industrieländern geworden.

 Doch die Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnte beschränken sich nicht auf Politik und Ökonomie. In dem Teil der Welt, der sich am schnellsten verändert hat - dem industriellen Westen - hat die Jugendrevolte der späten sechziger Jahre offenbart, daß in einem großen Teil der jungen Generation die kulturellen Grundhaltungen des Westens, d. h. die wertorientierten Verhaltensweisen, in Frage gestellt werden; und diese kulturelle Entfremdung hat den gewaltsamen Ausbruch von damals überdauert. Ein radikaler Zweifel am Sinn der Konsum- und Leistungsgesellschaft, ein Verlust des Vertrauens in die bürokratisch entfremdete parlamentarische Demokratie und ein Suchen nach neuen Formen der Partizipation haben wichtige Teile der berufsmäßig mit der »Vermittlung von Sinn« befaßten intellektuellen Schichten erfaßt und das Klima der öffentlichen Diskussion verändert; und die Flucht aus der Anomie in die Utopie hat auch in der Debatte um den Inhalt der sozialistischen Idee neue Fragen aufgerollt.

 Es ist natürlich unmöglich, diese Fülle neuer Probleme im Rahmen der Einführung zu einem vor dreißig Jahren geschriebenen Buch systematisch und ausführlich zu behandeln. Ebensowenig ist hier der Platz, mich mit der einschlägigen neueren wissenschaftlichen Literatur, insbesondere auch der »neomarxistischen« Literatur, auseinanderzusetzen. Doch ich würde meiner Verantwortung als Autor nicht gerecht werden, wenn ich dieser Neuauflage zustimmte, ohne deutlich zu machen, worin und warum ich meinen Standpunkt geändert habe, und ohne meine Stellungnahme wenigstens zu einigen der neuen Probleme zu skizzieren. Dies soll auf den folgenden Seiten geschehen.

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