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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Von der Einzigartigkeit des Westens

von Richard Löwenthal

 

Zur Einführung in die Aufsatzsammlung

»Gesellschaftswandel und Kulturkrise« (Frankfurt 1979)

 

 »Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?«

 Mit diesem Satz eröffnete Max WEBER die Vorbemerkung zu seinen Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. Er drückte damit eine Auffassung aus, die zu seiner Zeit originell war und heute umstrittener ist denn je: Die Auffassung von der Einzigartigkeit und universellen Bedeutung einer besonderen »westlichen« Kultur oder Zivilisation.

 Auf der einen Seite setzt diese These die Existenz einer Mehrzahl von Hochkulturen voraus, die in der Geschichte der Menschheit nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander existiert haben, und steht damit gegensatz zu der im modernen Westen lange Zeit dominierenden Vorstellung von einem einlinigen Fortschritt der Geschichte. Tatsächlich war diese Grunderkenntnis von der Pluralität der Kulturen noch unter den Denkern des 18. Jahrhunderts weitverbreitet, die oft eine idealisierte Darstellung exotischer Lebensformen und Institutionen als kritisches Gegenbild den zeitgenössischen Zuständen der eigenen Gesellschaft vorhielten. Sie findet sich, gleichzeitig mit dem Fortschrittsgedanken und mit ihm kontrastierend, auch noch in der HEGELschen Geschichtsphilosophie. Erst mit der zunehmenden Verflachung des siegreichen Fortschrittsglaubens zu der Auffassung, daß der »gesetzmäßige« wissenschaftliche, technische und materielle Fortschritt das Ganze des menschlichen Fortschritts sei, ist dann die Vorstellung vom einlinigen Geschichtsverlauf, in dem alle fremden Kulturen nur noch als »rückständige Stufen der eigenen Entwicklung begriffen werden können, für große Teile der westlichen Öffentlichkeit zeitweise bestimmend geworden - und zwar sowohl in der Form eines bourgeoisen Vulgärmaterialismus wie des Vulgärmarxismus.

 Auf der anderen Seite ist die zitierte Fragestellung von Max WEBER auch unvereinbar mit dem Ansatz seines Zeitgenossen Oswald SPENGLER, nach dem die Pluralität der Hochkulturen eben das ausschließen würde, was WEBER eine »Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung « nennt. WEBER fragte ja gerade, welche »Verkettung« von strukturellen und kulturellen Zügen die besondere westliche Zivilisation dazu befähigt hat, auf die moderne Entwicklung der Menschheit im Ganzen in einzigartiger Weise prägend einzuwirken. Dabei sah er in der weltweiten technisch-ökonomischen und militärisch-politischen Machtentfaltung des Westens und in dem weltweiten Siegeszug der im Westen entsprungenen Wissenschaft nicht etwa ein hinreichende Antwort auf seine Frage, sondern nur eine andere Formulierung des Problems: Ihm ging es ja gerade um die Aufdeckung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wurzeln jener einzigartigen Dynamik immer neuer Veränderung, die Wissenschaft und Technik, moderne Wirtschaftsorganisation und die ihnen entsprechenden Formen der Machtentfaltung erstmalig im Westen hervorgebracht hat.

  Mit andern Worten: WEBER erkannte, daß die vormoderne, »traditionelle« westliche Gesellschaft – die Gesellschaft des europäischen Mittelalters – Antriebskräfte und Spielräume für eine endogene Veränderung enthielt, die den vormodernen traditionellen Gesellschaften anderer Kulturen fehlten, und daß eben darum sie – und nur sie – den Anstoß zur Herausbildung der modernen Welt gegeben und damit eine »Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit« bestimmt hat. Dabei drückt das Wort »Gültigkeit« doch wohl aus, daß WEBER diese Entwicklungsrichtung bei allem kritischen Bewußtsein der auf ihrem Wege liegenden Zerstörungen grundsätzlich bejahte.

 Diese bejahende Haltung zur Dynamik und Modernisierungsleistung des Westens ist heute natürlich in hohem Maße umstritten – und zwar auch und gerade im Westen selbst. Doch bevor wir uns mit ihren grundsätzlichen Kritikern auseinandersetzen, soll hier kurz der Versuch gemacht werden, WEBERs Teilantworten auf seine Frage nach den Wurzeln dieser Dynamik, die sich in seinem ganzen Werk verstreut finden, in Erinnerung zu rufen und zu generalisieren.


Einige Wurzeln der westlichen Dynamik

 Was wir die westliche Zivilisation oder Kultur nennen, ist im Europa des frühen Mittelalters vor allem aus der Verschmelzung von Kulturelementen der griechisch-römischen Antike und des Christentums mit Einschluß seines jüdischen Hintergrundes, aber auch aus Beiträgen der germanischen und keltischen Stämme Nordwesteuropas entstanden. Die Struktur der nachrömischen Gesellschaft, die damals allmählich Form annahm, unterschied sich in einigen wichtigen Punkten von den traditionellen Gesellschaften anderer Hochkulturen. Die Macht ihrer Herrscher war beschränkt durch den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt. Die ständische Ordnung, die sich im Westen herausbildete, trennte wie in anderen traditionellen Gesellschaften Gruppen mit verschiedenem rechtlichen Status; doch es gab nicht mehr, wie in der Antike, eine große Schicht von Sklaven ohne jede persönllchen Rechte. Der Übergang aus einem niederen in einen höheren Stand war zwar schwer, aber nicht durch eine starre Kastenordnung ausgeschlossen – man denke an die Chance des leibeigenen Bauern, durch gelungene Flucht in die Stadt zum freien Bürger zu werden. Schließlich waren die Stände nicht nur Ausdruck einer Rangordnung in der Arbeitsteilung, sondern bildeten im Laufe der Zeit Vertretungskörperschaften, mit denen die Herrscher ihre Macht zu teilen hatten. Vor allem aber setzte sich das Prinzip der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Bürger in den europäischen Städten bis hin zum Westrande des russischen Reiches durch.

  Unter diesen strukturellen Faktoren der Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit des Westens hat Max WEBER die Rolle der autonomen Stadt besonders hervorgehoben, die zum Teil an antike Traditionen anknüpfte, aber die Bürgerstädte des Westens von den Residenz-, Garnison- und Klientelstädten des Orients radikal unterschied (Bedeutsamerweise hat es dort nur in Japan Fälle städtischer Autonomie gegeben). Es waren die Städte, in denen alle Bürger als frei galten und in denen die Teilnahme an der Selbstverwaltung sich auf dieser Grundlage in langen Kämpfen verbreitete. Es waren die Städte, in denen – wie vorher nur in der christlichen Gemeinde – eine verschworene Gemeinschaft entstand, die nicht auf »naturwüchsigen« Blutsbanden beruhte. Es waren auch die Städte, in denen der überlokale Handel sich zuerst als Faktor der langsamen Veränderung der Lebensbedingungen auszuwirken begann. Und es waren vor allem die Städte, in denen neben der Oberschicht von reichen Kaufleuten jene nur dem Westen eigene breite Mittelschicht von unabhängigen, Handwerk und Handel treibenden Bürgern sich entwickelte, die später zu Trägern der frühindustriellen Entwicklung wurden.

 An einigen der genannten Punkte ist schon ein Zusammenhang zwischen den besonderen strukturellen Zügen der frühen westlichen Gesellschaften und ihren besonderen kulturellen Werthaltungen erkennbar geworden. Ich möchte deren Liste mit der hohen Bewertung der Vernunft als Schlüssel zum Verständnis der Welt nennen, die nicht nur auf das Erbe der antiken philosophischen Spekulation, sondern auch auf die frühe Zurückdrängung magischen Denkens innerhalb der Religion im Christentum und schon im prophetischen Judentum zurückgeht: Sie ist der Ausgangspunkt für die Rolle der mittelalterlichen Scholastik, aber auch für deren Erschütterung in der Renaissance, für wichtige Impulse der Reformation, für die Aufklärung und schließlich die moderne Wissenschaft geworden. Ich nenne weiter die Vorstellung von der Einzigartigkeit jeder menschlichen Person als Träger einer unsterblichen Seele, aus der im Westen die Folgerung gezogen wurde, daß jeder Mensch mit unveräußerlichen Rechten und unverzichtbarer moralischer Verantwortung geboren wird – eine Haltung, die an sich noch nicht die Forderung nach gleichen Rechten begründet, wohl aber mit Sklaverei unvereinbar ist. Den Rechten des Individuums steht die Bindung an die Gemeinschaft gegenüber, und zwar seit der christlichen Gemeinde und zunehmend in der Stadt an eine freiwillig eingegangene, nicht durch Blutsbande vorgegebene Gemeinschaft, die darum nicht weniger verpflichtend ist. Die Notwendigkeit, die Rechte der einzelnen gegeneinander und gegen die der Gemeinschaft abzugrenzen, begründete die Notwendigkeit einer Rechtsordnung, die an römische Überlieferung, aber auch an germanische Stammestraditionen anknüpfen konnte, und eines Kanons der Alltagsmoral. Schließlich findet sich im Westen schon seit der Ordensregel der Benediktiner die Vorstellung von der Arbeit, einschließlich der körperlichen Arbeit, nicht nur als bitterer Notwendigkeit und Fluch des irdischen Daseins, sondern als dessen verdienstvolle Sinnerfüllung – eine Vorstellung, die ein völlig anderes Verhältnis zumal der westlichen Oberschicht zur Leistung und zum Produktionsprozeß begründet hat als bei den traditionellen Oberschichten anderer Kulturen.

 Zusammen haben die angeführten besonderen strukturellen Züge und kulturellen Werthaltungen der traditionellen westlichen Gesellschaft einen Spielraum und zugleich einen Antrieb für Veränderungen gegeben, wie er in keiner anderen traditionellen Gesellschaft existiert hat. Das gleichzeitige Streben so vieler Individuen nach Verbesserung ihrer Kenntnisse oder ihres moralischen Charakters, ihres sozialen Status oder ihres Besitzstandes haben hier einen fortschreitenden Prozeß ungeplanter gesellschaftlicher Veränderung in Gang gesetzt. Max WEBER hat, über seine Hinweise auf die hierfür relevanten Züge der traditionellen westlichen Gesellschaft hinaus, auch wesentlich zu unserem Verständnis der Vorgänge beigetrageri, die diesen dynamischen Prozeß der Überwindung der traditionellen Ordnung direkt einleiteten. Neben dem Erstarken des städtischen Bürgertums und seines Selbstbewußtseins, neben dem Beitrag des Überseehandels und des Zeitalters der Entdeckungen zur beginnenden Kapitalanhäufung durch eine Minderheit, neben den Anfängen einer nicht mehr dogmengebundenen Philosophie und einer mathematischen Naturwissenschaft hat er vor allem auf die Herausbildung der protestantischen Ethik, zumal in ihrer calvinischen Form, auf der einen, die Herausbildung des modernen bürokratischen Territorialstaates auf der anderen Seite hingewiesen, die in den Jahrhunderten seit der Renaissance die Alltagsethik des mittelalterlichen Katholizismus und die politische Ordnung des Feudalsystems mit seiner Fülle autonomer Gewalten ablösten.

 WEBER hat einmal gezeigt, daß die Ersetzung der katholischen »Werkheiligkeit« durch die calvinische Interpretation des diesseitigen Arbeitserfolgs als eines Anzeichens göttlicher Gnade, in hohem Maße bisher anderweitig gebundene Energien auf den Bereich der erwerbsorientierten Arbeit konzentrierte und damit jenen Prozeß der Durchrationalisierung des Alltags unter dem Primat wirtschaftlicher Antriebe einleitete, der seither zuerst den Westen und später immer weitere Teile der Welt transformiert hat. Zum andern hat er deutlich gemacht, wie die Herstellung eines wirksamen Gewaltmonopols in immer größeren territorialen Gebieten, kombiniert mit einer kalkulierbaren bürokratischen Verwaltung und mit der Bindung des Gewaltträgers an eine Rechtsordnung, die seine Untertanen bei Einhaltung feststehender. Regeln vor Willkür schützte, den Rahmen schuf, in dem moderne kapitalistische Produktionsformen sich in Sicherheit entfalten konnten. Der Durchrationalisierung des Alltags und der zunehmenden Rationalität der kapitalistischen Produktion entsprach so die zunehmende Rationalität des bürokratischen Rechtsstaats.


Leistungen, Zerstörungen, Krisen

 Dieser dreifache Prozeß der Rationalisierung hat nun die in der Eigenart der ursprünglichen Institutionen und Grundwerte des Westens angelegte Dynamik der Veränderung ungeheuer gesteigert. Er hat das, was wir die moderne Welt nennen – eine Welt erstaunlicher wissenschaftlicher, technischer, ökonomischer und organisatorischer Leistungen, eine Welt auch sich beschleunigender Veränderungen der politischen und sozialen Institutionen und der menschlichen Werthaltungen – , zuerst im Westen und dann unter dem Einfluß von dessen Vorbild und dessen ökonomischer und politischer Expansion in immer weiteren Teilen des Erdballs geschaffen. Der westliche Vorsprung in der Modernisierung war die Grundlage der beispiellosen Machtausdehnung der westlichen Großmächte in den Jahrhunderten des Imperialismus. Die Ausbreitung des westlichen Systerns wurde ihrerseits nicht nur die Ursache der Zersetzung der meisten nichtwestlichen, traditionellen Kulturen, damit einer Zerstörung vertrauter Lebensformen der nichtwestlichen Völker und eines oft verzweifelten, aber vergeblichen Anfangswiderstandes, sondern auch, mit der mindestens teilweise nachgeholten Modernisierung dieser Völker, des erfolgreichen antiimperialistischen Gegenschlages unseres Jahrhunderts.

  Doch die Zerstorung nichtwestlicher Gesellschaftsordungen und Kulturen war nicht die einzige der großen Zerstörungen, die von der Dynamik des Westens herbeigeführt wurden. Wir sind uns erst im letzten Jahrzehnt des Ausmaßes der von der beschleunigten Industrialisierung bewirkten und noch drohenden Zerstörungen der natürlichen Umwelt bewußt geworden, von der Vergiftung von Wasser und Luft über die drohende Erschöpfung der Bodenschätze an Rohstoffen und Energiequellen bis zur tendenziellen Veränderung des Klimas. Und neben diesen beiden erfahren wir eine dritte Richtung der Zerstörung – die Zerstörung des Lebenssinns für wichtige Teile der jungen Generation des Westens, denen wir auf Grund des rasanten Tempos der Veränderung der Lebensbedingungen nicht mehr vermocht haben, die grundlegenden Werte unserer Kultur glaubhaft zu vermitteln, und die darum in der durchorganisierten Rationalität unserer Lebensformen und unserer ökonomischen und politischen Apparatur nur noch eine leerlaufende »formale Rationalität« ohne erkennbaren Zweck sehen, dem die Perfektionierung der Mittel dienen würde. So kann die Kulturkrise des Westens, von der in diesem Band die Rede ist, neben der Krise der Weltstellung des Westens und der ökologischen Krise als die dritte der großen historischen Krisen aufgefaßt werden, die aus den zerstörenden Wirkungen der westlichen Dynamik hervorgegangen sind.

  Es ist unter diesen Umständen nur natürlich, daß wir heute in einem Zeitalter des westlichen Selbstzweifels leben. Zugegeben, daß die westliche Dynamik sich als »eine Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung« erwiesen hat, so scheint doch die »Gültigkeit« dieser Richtung überaus fragwürdig zu sein. Hat die westliche Dynamik nicht primär, oder doch letzten Endes, Zerstörung über die Menschheit gebracht? Hat sie nicht viele alte Hochkulturen zerstört und selbst im Leerlauf ihrer Rationalität geendet? Droht sie nicht, die uns umgebende Natur aufzufressen? »Die Welt hat Krebs, und der Krebs ist der Mensch«, klagen die radikalen Ökologen. Wenn das wahr ist - ist dann nicht der westliche, der »faustische« Mensch mit seinem grenzenlosen Streben der eigentliche Krebserreger gewesen?

  Ich vertrete hier den Standpunkt, daß man diese Fragen ernst nehmen muß, aber daß die darin ausgedrückte Auffassung insofern einseitig ist und letzten Endes in die Irre führt, als sie auf einer voreiligen Gleichsetzung bestimmter, zeitweise sehr wichtiger Tendenzen der westlichen Dynamik mit dem Ganzen der westlichen Entwicklung und ihrer tragenden Werte beruht. Ich bin überzeugt, daß eine Abkehr von diesen westlichen Werten, wie sie heute vielerorts explizit oder implizit vorgeschlagen wird, die Krise nicht überwinden, sondern nur ihre Zerstörungen vervielfachen würde. Ich glaube im Gegenteil, daß es zur Überwindung der Krise darauf ankommt, bestimmte Fehlentwicklungen des Westens zu korrigieren, aber die grundlegenden humanen Triebkräfte dieser Zivilisation zu bewahren.


Lernfähigkeit zwischen Hybris und Selbstaufgabe

  Um diese Auffassung zu begründen, möchte ich von Adolf PORTMANNS Erkenntnis ausgehen, daß das spezifische Unterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber den Tieren das Ausmaß seiner Lernfähigkeit ist. Es gibt auch Lernfähigkeit bei Tieren. Aber das Besondere am Menschen ist, wie gering vergleichsweise der Anteil seiner durch vererbte Instinkte gesteuerten Handlungen und wie breit der Anteil derjenigen Handlungen ist, die auf Grund von Lernvorgängen bewußt neugestaltet werden können. Der Mensch ist dasjenige Tier, das in einzigartigem Maße sein Verhalten auf Grund von Lernvorgängen verändern kann.

 Nun scheint es mir außer Zweifel zu stehen, daß keine Form der gesellschaftlichen Organisation der Menschheit jemals in solchem Ausmaß Lernvorgänge begünstigt hat, wie die Gesellschaften der westlichen Zivilisation. Was wir vorher als die spezifische Dynamik der westlichen Zivilisation bezeichnet haben, ist nur ein anderer Ausdruck derselben Sache. Aber eine Zivilisation, welche die Lernfähigkeit des Menschen in einzigartiger Weise durch ihre strukturellen und kulturellen Eigenarten begünstigt, bietet offenkundig einzigartige Chancen für das Überleben der Menschheit.

 Hier ist es notwendig, sofort das Gegenargument einzuführen. Der Mensch ist nicht nur lernfähig; er ist auch fehlbar. Im Prozeß des Lernens aus Erfahrungen kann er auch auf Irrwege geraten. Je erfolgreicher sein Lernen auf einer Stufe, je größer die Gefahr seiner Hybris, seiner Selbstüberhebung auf der nächsten – je größer also die Gefahr, daß er das nächste Mal »falsch« lernt. Lernen vollzieht sich tastend, experimentell - durch Fehlschläge ebenso wie durch Erfolge. Wer durch Erfolge auf einer Stufe unfähig wird, Fehlschläge auf der nächsten Stufe zur Kenntnis zu nehmen, der büßt seine Lernfähigkeit ein.

  Hier ist die spezifische Gefahr der westlichen Zivilisation: auf Grund von spektakulären Lernerfolgen die Lernfähigkeit zu verlieren. Die Krisen der westlichen Zivilisation in der Gegenwart sind Anzeichen von Fehlentwicklungen, aus denen neu gelernt werden muß. Doch das Umlernen muß da ansetzen, wo die Entwicklung tatsächlich fehlgelaufen ist. Es darf nicht zum Verzicht auf jene westlichen Grundwerte führen, die überhaupt erst die besondere Lernfähigkeit westlicher Gesellschaften – im Gegensatz zu den statischen, traditionellen Gesellschaften anderer Hochkulturen – begründet haben.

 Was damit verlorenginge, kann heute auf zwei Arten einsichtig gemacht werden. Die eine ist die Betrachtung der Versuche in einigen nichtwestlichen Ländern, von der notwendigen Erringung der Unabhängigkeit vom Westen zur irrationalen Verwerfung seiner rationalen Errungenschaften überzugehen. Der bisher größte solche Versuch war die chinesische »Kulturrevolution«, die zeitweise auch bei unseren heimischen Rebellen gegen die westliche Rationalität so viel Begeisterung auslöste.

 Heute ist kaum noch bestritten, daß dieses Experiment nicht nur Chinas Modernisierung durch die Verwerfung der Leistungsanreize, durch die Desorganisation der Erziehung und durch die Lähmung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre um ein Jahrzehnt zurückgeworfen, sondern auch durch die Entfesselung zielloser Gewalt, durch die Erniedrigung der Intellektuellen und durch die Zwangsverschickung einer Generation von Jugendlichen aufs Land ein gewaltiges Ausmaß sinnlosen menschlichen Leides verursacht hat. Ein anderer Versuch dieser Art, wenn auch mit verschiedener Ideologie, hat jüngst mit der »islamischen Revolution« in Iran begonnen, in der sich eine in vieler Hinsicht begründete Erhebung gegen die gewaltsame »Modernisierung von oben« durch den Schah mit Zügen einer primitiv-nativistischen Revolte gegen alle modernen, »westlichen« Lebensformen vermengte: Solche Unternehmungen haben keine andere Zukunft als die einer Verschärfung des Massenelends bis zu ihrer schließlichen Korrektur.

 Der Lernwert solcher tragischen Experimente liegt für uns darin, daß er hilft, uns die im Selbstzweifel allzuoft vergessenen gewaltigen Errungenschaften unserer westlichen Zivilisation in Erinnerung zu rufen, auf die heute weder wir noch andere ohne katastrophale Folgen verzichten können. Ich denke an die im Laufe der Jahrhunderte erweiterten Vorstellungen davon, was unveräußerliche Menschenrechte sind und was die Menschenwürde ausmacht; an die auf der Grundlage des westlichen Glaubens an die menschliche Vernunft möglich gewordene einzigartige Entfaltung der Wissenschaft; an die erstaunliche Zurückdrängung von Sterblichkeit, Krankheit und Not nicht nur für die privilegierte Minderheit, sondern für die gewaltige Mehrheit der Völker westlicher Zivilisation – eine früher unvorstellbare Erleichterung der condition humaine dank der Entwicklung von Wissenschaft, Leistungswillen sowie Technik und Organisation der Produktion.

 Diese Errungenschaften sind bisher weit davon entfernt, der ganzen Menschheit gleichmäßig zugute zu kommen; doch es ist nicht wahr, daß sie zu einem wesentlichen Teil auf Kosten der notleidenden Mehrheit der Menschheit erreicht worden wären. Im Gegenteil haben sie begonnen, sich auf nichtwestliche Teile der Welt auszudehnen, in denen das westliche Vorbild die Ansprüche der Menschen gesteigert und teilweise schon Wege zu ihrer Befriedigung gewiesen hat: Die Errungenschaften des westlichen Rechts- und Freiheitsbewußtseins, der westlichen Wissenschaft und Technik sind heute noch bei weitem nicht universell, aber sie sind grundsätzlich unversalisierbar, allen zerstörenden Konflikten und allen zeitweisen ideologischen Gegenbewegungen zum Trotz – und im Westen selbst ist, ungeachtet allen Selbstzweifels und zum Teil gerade bei seinen Trägern, das Bewußtsein der Verpflichtung zu ihrer Universalisierung nicht durch Machtexpansion, sondern durch Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung gewachsen. Der Imperialismus war nicht das letzte Stadium:des Westens und seiner Rolle in der Welt.


Was gültig bleibt

 Was hier über die schöpferischen Leistungen des Westens gesagt worden ist, hebt nicht das auf, was von den Anklägern und Selbstanklägern über seine zerstörerischen Fehlentwicklungen vorgebracht wird: Beides enthält Wahrheit. Aber es begründet den Schluß, daß diese Fehlentwicklungen ohne Abkehr von den Grundlagen der westlichen Zivilisation korrigiert werden müssen und können. Wir kennen heute aus bitterer Erfahrung die Risiken einer unkontrollierten Anwendung der Ergebnisse der Wissenschaft auf vielen Gebieten, eines ständig beschleunigten Wachstums der Produktion ohne Kontrolle seiner Richtungen, eines Tempos der Veränderung der Lebensbedingungen, mit dem die Übermittlung unserer grundlegenden Werte in der Erziehung nicht Schritt halten kann. Aber wir wissen auch, daß die rapid anwachsenden nichtwestlichen Bevölkerungen ohne die Mittel der Wissenschaft und Technik, ohne Anwachsen der Produktion in den notwendigen Richtungen nicht ernährt und mit dem Nötigsten versorgt werden können.

 Darum müssen wir aus den Fehlentwicklungen lernen, den Weg des Westens zugleich zu korrigieren und weiterzugehen – ohne Hybris, die sich der Kritik gegenüber taub stellt, aber auch ohne Verleugnung der Werte, von denen wir ausgegangen sind. Doch diese These ruft heute notwendig einen letzten Einwand wach: Hat der Westen angesichts der Tiefe seiner kulturellen Krise denn noch die Möglichkeit, den schöpferischen Ausweg allein auf der Basis seiner eigenen Werte zu finden? Hat er nicht von den alten, undynamischen Zivilisationen vor allem Asiens, deren Trümmer ihn umgeben, ebensoviel oder mehr zu lernen als diese von ihm? Ist nicht das vielfältige Eindringen nichtwestlicher Lebensformen in die westliche Welt, von meditativen Sekten und Drogenkulten bis hin zur Propaganda alternativer Ernährungsweisen und alternativer Technologien, ein Anzeichen dafür, daß der hoffnungsvollste Weg der Erneuerung der Weg zu einer ganz neuen Synthese verschiedener Zivilisationen ist und daß wir uns schon auf diesem Wege befinden?

 Ich glaube, daß man diese Fragen nur ernsthaft beantworten kann, wenn man zwischen drei verschiedenen möglichen Prozessen unterscheidet: Dem kulturellen Synkretismus als Symptom einer andauernden Kulturkrise, der schöpferischen neuen Synthese aus den Elementen von bereits zusammengebrochenen Zivilisationen und dem konstruktiven Lernprozeß einer zwar in die Krise geratenen, doch noch lebensfähigen Zivilisation.

 Den Synkretismus haben wir bereits, und er ist in der Tat nicht mehr als ein Krisensymptom. Das Einströmen von Elementen alter asiatischer Kulturen, von fremden Religionen und Meditationsschulen, von Sektengurus und Drogenkulten ist zweifellos ein Ausdruck des Ungenügens vieler westlicher Menschen sowohl an den christlichen Traditionen wie an den säkularisierten Lebensformen, aber es bleibt auf Randerscheinungen beschränkt: Die fremden Elemente bleiben exotisch, gleich unfähig, von der westlichen Lebensform, die weiterbesteht, assimiliert zu werden oder diese zu ersetzen. Assimilierbar und in der Tat potentiell wichtig als Instrument der internationalen Wirtschaftspolitik sind wahrscheinlich die alternativen Technologien, die auf Länder mit strukturellem Mangel an Kapital und Überschuß an Arbeitskraft zugeschnitten sind – aber nicht als Instrumente eines Wandels des Westens, sondern eines im westlichen Sinne rationalen Zusammenlebens von Ländern mit verschiedener wirtschaftlicher Struktur.

 Eine neue kulturelle Synthese setzt demgegenüber voraus, daß die alten Zivilisationen, deren Erbe sie antritt, nicht nur von einer Krise betroffen sind, sondern daß ihr Zusammenbruch ihre verschiedenen Elemente für eine neue Gestaltung freigesetzt hat, wie der Zusammenbruch der römischen Zivilisation deren Elemente für eine Synthese mit dem aus dem Nahen Osten sich ausbreitenden christlichen Glauben freisetzte, aus der das »Abendland« entstand. Das Vorbild scheint zu lehren, daß solche Synthesen nicht durch bewußten Willensakt geschaffen werden können, sondern sich in Jahrhunderten des formlosen Chaos vorbereiten, wie Europa sie im Zeitalter der Völkerwanderung gekannt hat – »dark ages« nach dem Ausdruck der englischen Historiker, wie sie uns wohl bevorstehen mögen, wenn die Überwindung unserer Kulturkrise endgültig mißlingt, wie aber niemand sie wünschen kann, solange ein solches Schicksal nicht offenbar unvermeidlich ist.

 Doch so gewiß unsere westliche Zivilisation sich in einer ernsten Krise befindet, so gewiß ist sie noch nicht zusammengebrochen. Ihre grundlegenden Werte und Triebkräfte sind, obwohl gefährdet, noch wirksam, ihre institutionellen und normativen Gestalten noch der Umformung fähig. Sie sollte daher imstande sein, neben anderen Lehren auch brauchbare Elemente aus anderen Zivilisationen konstruktiv sich einzuverleiben - unter Korrektur ihrer Fehlentwicklungen, aber ohne Preisgabe ihrer Werte und ihrer Kernstruktur. Denn nicht nur unsere geschichtlichen Leistungen, auch unsere Lernfähigkeit beruht auf dieser Struktur und diesen Werten.
Der »faustische« Mensch mit seinem unendlichen Streben ist dennoch kein Krebserreger. Denn ein Krebsgeschwür ist nicht lernfähig – wir aber sind es.

 

In dieser Verbindung ist auch ein Aufsatz des Präfekten für die Glaubenslehre Joseph Kardinal Ratzinger in der Zeit beachtenswert.

 

Eurozentrismus